»Zu spät«, sagte Ferdinand,»immer zu spät. Das ist nun mal so im Leben, Robby.«
Er ging langsam hin und her.»Wir wollen ihn ruhig eine Zeitlang da drüben für sich lassen. Könnten inzwischen eine Partie Schach spielen.«
»Du hast ein goldenes Gemüt«, sagte ich.
Er blieb stehen.»Wieso? Nützt dem nicht und schadet ihm nicht. Wenn man immer an so was denken wollte, dürfte kein Mensch auf der Welt jemals mehr lachen, Robby…«
»Da hast du wieder recht«, sagte ich,»also machen wir rasch eine Partie.«
Wir stellten die Figuren auf und begannen. Ferdinand gewann ziemlich mühelos. Er setzte mich mit Turm und Läufer matt, ohne die Dame zu gebrauchen.»Allerhand«, sagte ich,»du siehst aus, als ob du drei Tage nicht geschlafen hättest. Dabei spielst du wie ein Seeräuber.«
»Ich spiele immer gut, wenn ich melancholisch bin«, erwiderte Ferdinand.
»Weshalb bist du denn melancholisch?«
»Ach, nur so. Weil es dunkel wird. Ein ordentlicher Mensch ist immer melancholisch, wenn es Abend wird.
Nicht aus irgendeinem Grunde. Einfach nur so ganz allgemein…«
»Aber nur, wenn er allein ist«, sagte ich.
»Natürlich. Die Stunde der Schatten. Die Stunde der Einsamkeit. Die Stunde, wo der Kognak am besten schmeckt.«
Er holte eine Flasche und zwei Gläser.»Müssen wir nicht zu dem Bäcker 'rein?«fragte ich.
»Gleich.«Er schenkte ein.»Prost, Robby! Weil wir alle mal krepieren müssen!«
»Prost, Ferdinand! Weil wir einstweilen noch da sind!«
»Na«, sagte er,»manchmal hätte nicht viel gefehlt. Wollen auch darauf noch einen nehmen!«
»Gut.«
Wir gingen zurück ins Atelier. Es war dunkler geworden. Der Bäcker stand immer noch mit eingezogenen Schultern vor dem Bilde. Er sah jämmerlich verloren aus in dem großen, kahlen Raum, und es kam mir vor, als wäre er kleiner geworden.
»Soll ich Ihnen das Bild einpacken?«fragte Ferdinand.
Er schreckte auf.»Nein…«
»Dann werde ich es Ihnen morgen schicken.«
»Kann es nicht noch hierbleiben?«fragte der Bäcker zögernd.
»Warum denn?«erwiderte Ferdinand erstaunt und kam näher.»Gefällt es Ihnen nicht?«
»Doch – aber ich möchte es gern noch hierlassen…«
»Das verstehe ich nicht…«
Der Bäcker sah mich hilfesuchend an. Ich begriff – er hatte Angst, das Bild zu Hause bei dem schwarzen Luder aufzuhängen. Vielleicht war es auch Scheu vor der Toten, sie dahinzubringen.»Aber Ferdinand«, sagte ich,»das Bild kann doch ruhig noch hier hängenbleiben, wenn es bezahlt ist…«
»Das natürlich…«
Der Bäcker zog erleichtert sein Scheckbuch aus der Tasche. Die beiden gingen zum Tisch.»Vierhundert Mark Rest?«fragte der Bäcker.
»Vierhundertzwanzig«, sagte Ferdinand,»einschließlich Rabatt. Wollen Sie eine Quittung?«
»Ja«, erwiderte der Bäcker,»wegen der Ordnung.«
Schweigend schrieben beide den Scheck und die Quittung aus. Ich blieb am Fenster stehen und sah mich um. Im halben Licht der Dämmerung schimmerten rings an den Wänden die Gesichter der nicht abgeholten und nicht bezahlten Porträts in ihren goldenen Rahmen. Sie sahen aus wie eine gespenstische Versammlung aus dem Jenseits, und es schien, als wären alle die starren Augen auf das Bild am Fenster gerichtet, das jetzt zu ihnen kommen sollte und über das der Abend noch einen letzten Glanz von Leben breitete. Es war eine sonderbare Stimmung – die beiden gebückten, schreibenden Gestalten am Tisch, die Schatten und die vielen stillen Bilder.
Der Bäcker kam zum Fenster zurück. Seine rotgeäderten Augen wirkten wie gläserne Kugeln, sein Mund war halb offen, die Unterlippe hing herab, und man sah die fleckigen Zähne – es war lächerlich und traurig, wie er so dastand. In der Etage über dem Atelier fing jemand an, Klavier zu spielen, irgendeine Fingerübung, immer dieselbe Tonfolge. Es klang dünn und quälend. Ferdinand Grau war am Tisch stehengeblieben. Er zündete sich eine Zigarre an. Das Licht des Streichholzes beleuchtete sein Gesicht. Der halbdunkle Raum erschien ungeheuer groß und sehr blau durch den kleinen rötlichen Schein.
»Kann man an dem Bild noch etwas ändern?«fragte der Bäcker.
»Was denn?«
Ferdinand kam heran. Der Bäcker zeigte auf den Schmuck.»Kann man das da wieder wegmachen?«
Es war die mächtige goldene Brosche, die er damals, bei der Bestellung, extra verlangt hatte.»Gewiß«, sagte Ferdinand,»sie stört sogar das Gesicht. Das Bild gewinnt, wenn sie wegkommt.«
»Das meine ich auch.«Er druckste eine Weile herum.»Was kostet es denn?«
Ferdinand und ich warfen uns einen Blick zu.»Es kostet gar nichts«, sagte Ferdinand gutmütig,»im Gegenteil, eigentlich bekämen Sie noch etwas heraus. Es ist ja dann weniger drauf.«