Der Rastplatz war leer. Nein, nicht ganz. Der Langhaarige hörte Geräusche vom anderen Ende und ging näher heran.
Ein allem Anschein nach erschöpfter älterer Mann lag, einen Nierengürtel neben sich, auf einem der Picknicktische. Seiner offenen Hose entquoll ein bemerkenswerter Schmerbauch. Der Mann versuchte ein Bein gegen seine Brust zu drücken, doch der Bauch war im Weg.
Keuchend setzte er sich auf.
Sofern er in Begleitung war, hatten die Leute reichlich Zeit gehabt aufzutauchen. Der Langhaarige sah noch ein wenig zu. Jetzt kam das andere Bein an die Reihe; der Mann stöhnte.
Ein ganzer Tag auf dem Motorrad war die Hölle.
Stöhnend lag Harry auf dem Picknicktisch. Die beiden Auffahrunfälle würden für den Rest seines Lebens ihre Spuren bei ihm hinterlassen. Sein Rückgrat fühlte sich an wie eine Schlange aus Kristallglas, die man auf einen Plattenweg geworfen hatte. Ihm war bewußt, daß er zu dick war. Da nützte auch der Nierengürtel nichts.
Er nahm das Buch mit StreckGymnastikübungen heraus. Einige davon würden ja wohl gut gegen seine Rückenschmerzen sein – es war einen Versuch wert. Zuerst kam es ihm eher vor, als breche sein Rücken durch; er hatte nicht den Eindruck, daß ihm die Übungen halfen.
Jetzt tauchte ein Fremder in seinem Gesichtskreis auf, wohl auch ein Motorradfahrer. Er trat gelassen an Harrys Maschine, ließ den Blick über sie streifen und kam dann auf Harry zu. Hoch ragte er über ihm auf.
Der Fremde fragte: »Wozu das Handtuch?«
Keuchend ließ sich Harry auf den Rücken fallen. Er sagte: »Das ist das nützlichste, was man auf Reisen dabeihaben kann. Ich mach Dehnübungen. Mein Rücken ist total kaputt. Ich hab…«
»Laß gut sein. Her mit dem Schlüssel für die Kawa.«
»Zieh mich hoch! So komm ich nicht ran.«
Der Langhaarige befolgte diese Aufforderung und zog Harry am Kragen der Lederjacke nach oben. Als er über seinem Herzen auf einmal etwas Hartes spürte, senkte er den Blick. Die Lederjacke entglitt seiner Hand, und die 6,35er Beretta war auf ihn gerichtet.
»Ich hab ‘nen Schlüssel zu ‘ner Tür, die du besser nicht öffnest «, sagte Harry.
Jeder, der eine Spur Verstand besaß, hätte darüber zumindest einmal nachgedacht. Der Bursche jedoch reagierte sofort: er schlug nach der Hand, die ihn bedrohte und setzte zu einem Fausthieb auf Harrys Kinnlade an.
Harry zog den Abzug durch. Die Faust explodierte auf Harrys Kiefer und ließ alles vor seinen Augen verschwimmen. Auch die Hand, in der er die Waffe hielt, flog beiseite. Harry zielte erneut und schoß noch zweimal, die Pistole am Rumpf des Mannes emporführend.
Er sah sich rasch um. Die Schüsse waren nicht sehr laut gewesen. Es war auch kein besonders großes Kaliber, und Harry traute der Waffe nicht recht. Ob der Bursche wohl allein war? Er stand noch immer und machte ein verblüfftes Gesicht. Harry feuerte noch zwei Schüsse auf ihn ab und hielt die letzte Kugel in Reserve.
Endlich stürzte der Angreifer zu Boden.
Harry war klar, daß er hier nicht mehr bleiben konnte. Er wälzte sich vom Tisch, schloß die Hose, legte den Nierengürtel an und lauschte aufmerksam, während er zu Atem zu kommen versuchte.
Der Halunke atmete immer noch, es klang fast wie ein Schnarchen. Harry sah zu ihm hinab. »Ich tu dir ‘nen großen Gefallen, mein Junge«, sagte er, »und geb dir keinen Fangschuß.«
Der andere sagte nichts.
Harry schob seine Maschine zu der des Angreifers, zog munter pfeifend die Benzinleitung ab und ließ den Kraftstoff aus dem Tank in ein großes Glas laufen, das er aus einem Müllhaufen gefischt hatte. Nachdem er es bis zum letzten Tropfen in seinen Tank geleert hatte, untersuchte er das Gepäck des anderen. Viel hatte er nicht.
Dann bestieg er seine Maschine und fuhr gutgelaunt davon. Harry glaubte fest an das Gesetz vom Überleben der Tüchtigsten.
Jeri und Melissa hatten sich für die Nacht in ein Gebüsch ein ganzes Stück oberhalb der Straße zurückgezogen – sicherheitshalber. Als Jeri zu Beginn der Morgendämmerung erwachte, war Melissa bereits wach, blieb aber in ihren Schlafsack gekuschelt. »Ich wußte gar nicht, daß es in der Wüste so kalt sein kann«, beschwerte sie sich.
»Das hatte ich dir doch gesagt«, gab Jeri zurück. Sie machte rasch Kakao auf dem Campingkocher, der zwischen ihren Köpfen stand.