Читаем Gertrud / Гертруда. Книга для чтения на немецком языке полностью

Unter diesen Umständen konnte meines Bleibens daheim nicht sein. Auch die Eltern litten unter meiner reizbaren Schwermut nicht wenig und redeten kaum dagegen, als ich mir die Erlaubnis erbat, gleich jetzt die längst geplante Reise anzutreten, die der Vater mir versprochen hatte. Es hat auch später noch mein Gebrechen mir zu schaffen gemacht und mir Wünsche und Hoffnungen zerstört, an denen mein Herz hing; aber so heiß und quälend habe ich meine Schwäche und Verunstaltung wohl nie mehr empfunden wie damals, wo der Anblick jedes gesunden jungen Mannes und jeder hübschen Frauengestalt mich demütigte und mir wehtat. Wie ich mich langsam an den Stock und das Hinken gewöhnt hatte, bis es mich kaum mehr störte, so musste ich mich mit den Jahren daran gewöhnen, meines Schadens ohne Bitterkeit bewusst zu bleiben und ihn mit Ergebung und Humor zu tragen.

Zum Glück konnte ich allein reisen und bedurfte keiner besonderen Wartung mehr; jede Begleitung wäre mir zuwider gewesen und hätte meine innere Heilung gestört. Mir ward schon leichter, als ich im Zuge saß und niemand mehr mich auffällig und mitleidig betrachtete. Ich fuhr ohne Pause Tag und Nacht, in einem wahren Fluchtgefühl, und atmete tief auf, als ich am zweiten Abend durch trübe Fenster spitze, hohe Berge erblickte. Mit dem Dunkelwerden erreichte ich die letzte Station, ging müde und froh durch dunkle Gassen eines Graubündners Städtchens[25] dem ersten Gasthause zu und schlief nach einem Becher tiefroten Weines mir in zehn Stunden die Reisemüdigkeit und schon auch einen guten Teil der mitgebrachten Bedrängnis vom Halse.

Am Morgen stieg ich in die kleine Bergbahn, die durch enge Täler an weißen, schäumenden Bächen hin bergeinwärts führte, und dann an einem kleinen einsamen Bahnhöflein in einen Wagen, und um Mittag war ich droben in einem der höchstgelegenen Dörfer des Landes.

Im einzigen kleinen Gasthaus des stillen, armen Dorfes wohnte ich nun, zeitweise als einziger Gast, bis in den Herbst hinein. Ich hatte im Sinn gehabt, hier eine kleine Weile auszuruhen und dann weiter durch die Schweiz zu reisen, ein Stück Welt und Fremde zu sehen. Es ging aber in jener Höhe ein Wind und wehte eine Luft voller herber Klarheit und Größe, die ich nimmer verlassen mochte. Die eine Seite des Hochtales war mit Tannenwald bewachsen, fast bis zur Höhe, die andere Lehne war felsig kahl. Hier brachte ich meine Tage zu, im sonnenbraunen Gestein oder an einem der kraftvollen wilden Bäche, deren Lied bei Nacht durchs ganze Dorf tönte. In den ersten Tagen genossich die Einsamkeit wie einen kühlen Heiltrank, niemand sah mir nach, niemand zeigte mir Neugierde oder Mitleid, ich war frei und allein wie ein Vogel in der Höhe und vergaß bald meinen Schmerz und mein kränkliches Neidgefühl. Zuweilen tat es mir leid, dass ich nicht weit in die Berge gehen, unbekannte Täler und Alpen besuchen, gefährliche Wege steigen konnte. Doch war mir im Grunde herrlich wohl, nach den Erlebnissen und Erregungen der vergangenen Monate umfing mich die Stille der Einsamkeit wie eine sichere Burg, ich fand die gestörte Seelenruhe wieder und lernte, mich in meine körperliche Schwäche, wenn nicht mit Heiterkeit, so doch mit Resignation finden.

Die Wochen dort oben sind beinahe die schönsten in meinem Leben gewesen. Ich atmete die reine, helle Luft, trank das eisige Wasser der Bäche, sah an den steilen Hängen die Ziegenherden grasen, von schwarzhaarigen, träumerisch stillen Hirten bewacht, hörte zuweilen Stürme durchs Tal gehen, sah Nebeln und Gewölk aus ungewohnter Nähe ins Gesicht. In Steinspalten beobachtete ich die kleine, zarte farbenkräftige Blumenwelt und die vielen herrlichen Moose, und an klaren Tagen stieg ich gern eine Stunde bergan, bis ich über die jenseitige Höhe hinweg die fernen, rein gezeichneten Spitzen hoher Berge mit blauen Schatten und selig leuchtenden, silbernen Schneefeldern sehen konnte. An einer Stelle des Fußpfades, wo von einer armen, kleinen Quelle her ihn ein dünnes Wassergerinnsel feucht erhielt, fand ich an jedem hellen Tag einen Schwarm von Hunderten kleiner blauer Schmetterlinge trinkend sitzen, die kaum vor meinen Schritten auswichen und mich, wenn ich sie aufstörte, mit einem winzigen, seidenzarten Flügelgesumme umtaumelten. Seit ich sie kannte, ging ich diesen Weg nur an sonnigen Tagen, und jedesmal war die dichte, blaue Schar da, und jedesmal war es ein Feiertag.

Besinne ich mich genauer, so war allerdings jene Zeit nicht ganz so vollkommen blau und sonnig und feiertäglich, wie sie mir im Gedächtnis steht. Es gab nicht nur Nebeltage und Regentage, sogar Schnee und Kälte, es gab auch in mir Unwetter und böse Tage.

Перейти на страницу:

Все книги серии Чтение в оригинале (Каро)

Похожие книги

Дублинцы
Дублинцы

Джеймс Джойс – великий ирландский писатель, классик и одновременно разрушитель классики с ее канонами, человек, которому более, чем кому-либо, обязаны своим рождением новые литературные школы и направления XX века. В историю мировой литературы он вошел как автор романа «Улисс», ставшего одной из величайших книг за всю историю литературы. В настоящем томе представлена вся проза писателя, предшествующая этому великому роману, в лучших на сегодняшний день переводах: сборник рассказов «Дублинцы», роман «Портрет художника в юности», а также так называемая «виртуальная» проза Джойса, ранние пробы пера будущего гения, не опубликованные при жизни произведения, таящие в себе семена грядущих шедевров. Книга станет прекрасным подарком для всех ценителей творчества Джеймса Джойса.

Джеймс Джойс

Классическая проза ХX века