So peinlich es mir war und so sehr es mir wider das Selbstgefühl ging, meine frühere Verliebtheit so ins Kleine und Lächerliche gefallen zu sehen, so tat der Besuch mir doch wohl. Ich war sehr verwundert, das schöne begehrte Fräulein zum erstenmal ohne Leidenschafft und Brille zu sehen und wahrzunehmen, dass ich sie gar nicht gekannt habe. Hätte man mir die Puppe gezeigt, die ich als Dreijähriger umarmt und geliebt hatte, so hätte mich die Entfremdung und Änderung des Gefühls nicht mehr verwundern können als hier, wo ich ein vor Wochen noch heiß begehrtes Mädchen als eine völlig Fremde vor mir sah.
Von den Kameraden, die auf jenem Sonntagsausflug im Winter dabei gewesen waren, besuchten zwei mich einigemal, doch fanden wir wenig miteinander zu reden, und ich bemerkte ihr Aufatmen wohl, als es mir besser ging und ich sie bat, mir keine Opfer mehr zu bringen. Später trafen wir einander nicht mehr. Es war merkwürdig und machte mir einen wehmütig sonderbaren Eindruck: alles fiel von mir ab, ward fremd und ging mir verloren, was in diesen Jünglingsjahren zu meinem Leben gehört hatte. Ich sah plötzlich, wie falsch und traurig ich die ganze Zeit gelebt hatte, da nun Liebe, Freunde, Gewohnheiten und Freuden dieser Jahre von mir abfielen wie schlechte Kleider, sich ohne Schmerz von mir trennten, so dass es nur zu verwundern blieb, wie ich es bei ihnen so lange habe aushalten können oder sie bei mir.
Dagegen überraschte mich ein andrer Besuch, an den ich nie gedacht hätte. Es kam eines Tages mein Klavierlehrer, der strenge und spöttische Herr. Er behielt den Stock in der Hand und die Handschuhe an den Händen, sprach in seinem gewohnten herben, fast bissigen Ton, nannte jene böse Schlittenfahrt eine »Weiberkutschiererei«[21]
und schien mir, dem Ton seiner Worte nach, das erlebte Pech durchaus zu gönnen. Trotzdem war es merkwürdig, dass er sich eingefunden hatte, und es zeigte sich denn auch, obwohl er den Ton nicht änderte, dass er nicht in böser Absicht gekommen war, sondern um mir zu sagen, er halte mich trotz meiner Schwerfälligkeit für einen leidlichen Schüler, sein Kollege, der Violinlehrer, sei derselben Meinung, und sie hofften also, ich komme bald gesund wieder und mache ihnen Freude. Obwohl diese Rede, die fast wie eine Abbitte für frühere rüde Behandlung aussah, durchaus im selben bitter scharfen Tone wie alles Frühere vorgetragen ward, klang sie mir doch wie eine Liebeserklärung. Ich streckte dem unbeliebten Lehrer dankbar die Hand hin, und um ihm Vertrauen zu zeigen, versuchte ich ihm klarzumachen, wie es mir diese Jahre her gegangen sei und wie jetzt mein altes Herzensverhältnis zur Musik wieder aufzuleben beginne.Der Professor schüttelte den Kopf und pfiff vor Hohn, als er fragte: »Aha, Sie wollen Komponist werden?«
»Womöglich«, sagte ich bedrückt.
»Ja, da wünsche ich Ihnen Glück. Ich hätte gedacht, Sie würden jetzt vielleicht mit neuem Eifer ans Üben gehen, aber als Komponist haben Sie das freilich nicht nötig.«
»Oh, so ist es nicht gemeint.«
»Ja, wie denn? Wissen Sie, wenn ein Musikschüler faul ist und nicht arbeiten mag, dann legt er sich immer aufs Komponieren. Das kann jeder, und ein Genie ist ja bekanntlich auch jeder.«
»So meine ich’s wirklich nicht. Soll ich denn Klavierspieler werden?«
»Nein, lieber Herr, dazu würde es Ihnen doch nicht reichen. Aber anständig geigen lernen könnten Sie schon noch.«
»Nun, das will ich auch.«
»Hoffentlich ist’s Ihnen ernst. Möchte mich nicht länger aufhalten. Gute Besserung, Herr, und auf Wiedersehen!«
Damit ging er davon und ließ mich erstaunt zurück. Ich hatte an die Rückkehr zu den Studien noch wenig gedacht. Nun fürchtete ich doch, es möchte wieder schwer und misslich gehen und am Ende alles wieder werden, wie es vorher gewesen war. Doch hielten solche Gedanken nicht lange stand, und es zeigte sich auch, dass der Besuch des mürrischen Professors wirklich gut gemeint und ein Zeichen redlichen Wohlwollens war.