Sie sahen, wie Lupin einen abgebrochenen Zweig aus dem Gras hob und den Knoten am Baumstamm anstupste. Der Baum hörte auf, um sich zu schlagen, und auch Lupin verschwand im Erdloch zwischen den Wurzeln.
»Wenn er nur den Tarnumhang mitgenommen hätte«, sagte Harry.»Der liegt da einfach rum…«
Er drehte sich zu Hermine um.
»Wenn ich kurz rüberrenne und ihn hole, kann ihn Snape nicht mitnehmen und -«
»Harry, niemand darf uns sehen!«
»Wie kannst du das ertragen?«, erwiderte er aufgebracht.»Einfach nur rumzustehen und alles geschehen zu lassen?«Er zögerte.»Ich schnapp mir den Umhang!«
»Harry, nein!«
Hermine packte Harry am Kragen, und keinen Moment zu früh. In diesem Augenblick hörten sie, wie jemand laut anfing zu singen. Es war Hagrid. Leicht schwankend war er auf dem Weg zum Schloß, schmetterte ein Liedchen und fuchtelte mit einer großen Flasche in der Hand durch die Luft.
»Siehst du?«, flüsterte Hermine.»Siehst du, was passiert wäre? Wir müssen versteckt bleiben! Nein, Seidenschnabel!«
Der Hippogreif machte erneut hektische Anstalten, zu Hagrid zu laufen. Auch Harry packte ihn jetzt wieder an der Leine und hielt ihn mühsam zurück. Sie sahen Hagrid nach, wie er in gewagten Schlangenlinien den Weg entlang ging und schließlich verschwand. Seidenschnabel erlahmte und ließ traurig den Kopf sinken.
Kaum zwei Minuten später flog das Schloßportal erneut auf und Snape kam heraus. Mit großen Schritten kam er auf die Weide zu.
Vor der Weide hielt er inne und blickte sich um. Harry ballte die Fäuste. Snape langte nach dem Tarnurnhang im Gras und hob ihn hoch.
»Laß deine dreckigen Finger davon«, knurrte Harry hinter vorgehaltener Hand.
»Schhh!«
Snape nahm den Ast, den schon Lupin benutzt hatte, um den Baum zu lähmen, stupste gegen den Knoten und verschwand dann unter dem Tarnumhang.
»Das war's«, sagte Hermine leise.»Wir sind alle da unten. Und jetzt müssen wir warten, bis wir wieder rauskommen…«
Sie nahm das Ende von Seidenschnabels Leine und wickelte es fest um den nächsten Baum, dann setzte sie sich auf den trockenen Boden und schlang die Arme um die Knie.
»Harry, eins verstehe ich nicht… warum haben die Dementoren Sirius nicht gekriegt? Ich weiß noch, wie sie kamen, und dann bin ich wohl ohnmächtig geworden… es waren so viele…«
Auch Harry setzte sich ins Gras. Er schilderte Hermine, was er gesehen hatte; der Dementor hatte bereits seinen Schlund auf Harrys Mund gesenkt, als ein großes weißes Etwas über den See galoppiert kam und die Dementoren zum Rückzug trieb.
Als Harry fertig war, stand Hermines Mund halb offen.
»Aber was war das?«
»Wenn es die Dementoren vertrieben hat, dann kann es nur eins gewesen sein«, sagte Harry.»Ein richtiger Patronus. Ein mächtiger.«
»Aber wer hat ihn heraufbeschworen?«
Harry antwortete nicht. Er dachte an die Gestalt, die er auf der anderen Seite des Sees gesehen hatte. Er wußte schon, an wen er dabei dachte… aber wie konnte das nur möglich sein?
»Hast du nicht gesehen, wie er aussah?«, fragte Hermine begierig.»War es einer der Lehrer?«
»Nein«, sagte Harry.»Es war kein Lehrer.«
»Aber es muß ein sehr mächtiger Zauberer gewesen sein, wenn er all diese Dementoren verjagen konnte… wenn der Patronus so leuchtete, hat er ihn nicht beschienen? Konntest du nicht sehen -?«
»Doch, ich hab ihn gesehen«, sagte Harry langsam.»Aber… vielleicht hab ich's mir nur eingebildet… ich konnte nicht klar denken… gleich danach bin ich ohnmächtig geworden…«
»Wer, glaubst du, war es?«
»Ich glaube -«, Harry schluckte. Er wußte, wie seltsam dies klingen würde.»Ich glaube, es war mein Vater.«
Harry blickte auf und sah, daß Hermine den Mund weit aufgerissen hatte. Sie starrte ihn mit einer Mischung aus Entsetzen und Mitleid an.
»Harry, dein Dad ist – nun ja – tot«, sagte sie leise.
»Das weiß ich«, sagte Harry rasch.
»Glaubst du, es war ein Geist?«
»Ich weiß nicht… nein er schien aus Fleisch und Blut…«
»Aber dann -«
»Vielleicht hab ich mir alles nur eingebildet«, sagte Harry.»Aber… was ich gesehen habe… sah wie Dad aus… ich hab Fotos von ihm…«
Hermine sah ihn immer noch an, als machte sie sich Sorgen um seinen Verstand.
»Ich weiß, das klingt verrückt«, sagte Harry mit tonloser Stimme. Er sah sich nach dem Hippogreif um, der gerade den Schnabel in die Erde bohrte und offenbar nach Würmern suchte. Aber im Grunde sah er Seidenschnabel gar nicht an.
Er dachte über seinen Vater nach und über seine drei ältesten Freunde… Moony, Wurmschwanz, Tatze und Krone… waren sie alle vier heute Nacht auf dem Gelände? Wurmschwanz war diesen Abend wieder aufgetaucht, wo doch alle gedacht hatten, er sei tot… war es denn unmöglich, daß sein Vater dasselbe getan hatte? Hatte er drüben am anderen Ufer wirklich jemanden gesehen? Die Gestalt war zu weit weg und zu verschwommen… doch einen Moment lang war er sich sicher gewesen, bevor er ohnmächtig wurde…
Eine leichte Brise ließ die Blätter über ihnen rascheln. Hinter den Wolken, die über den Himmel zogen, kam der Mond zum Vorschein und verschwand wieder. Hermine saß da, unverwandt auf die Weide blickend, und wartete.