Percy zeigte den Mädchen den Weg durch eine Tür, die in ihren Schlafsaal führte und geleitete die Jungen in ihren. Sie kletterten eine Wendeltreppe empor – offensichtlich waren sie in einem der Türme – und fanden nun endlich ihre Betten: fünf Himmelbetten, die mit tiefroten samtenen Vorhängen verkleidet waren. Ihre Koffer waren schon hochgebracht worden. Viel zu müde, um sich noch lange zu unterhalten, zogen sie ihre Pyjamas an und ließen sich in die Kissen fallen.
»Tolles Essen, was?«, murmelte Ron durch die Vorhänge zu Harry hinüber.»Hau ab, Krätze! Er kaut an meinem Laken.«
Harry wollte Ron noch fragen, ob er von der Zuckergußtorte gekostet habe, doch in diesem Moment fielen ihm die Augen zu.
Vielleicht hatte Harry ein wenig zu viel gegessen, denn er hatte einen sehr merkwürdigen Traum. Er trug Professor Quirrells Turban, der ständig zu ihm sprach. Er müsse sofort nach Slytherin überwechseln, das sei sein Schicksal; der Turban wurde immer schwerer; Harry versuchte ihn vom Kopf zu reißen, doch er zog sich so eng zusammen, daß es weh tat. Und da war Malfoy, der ihn auslachte, jetzt verwandelte sich Malfoy in den hakennasigen Lehrer Snape, dessen Lachen spitz und kalt wurde – grünes Licht flammte auf und Harry erwachte zitternd und in Schweiß gebadet.
Er drehte sich auf die andere Seite und schlief wieder ein, und als er am nächsten Morgen aufwachte, erinnerte er sich nicht mehr an den Traum.
Der Meister der Zaubertränke
»Da ist er.«
»Wo?«
»Neben dem großen rothaarigen Jungen.«
»Der mit der Brille?«
»Siehst du seine Narbe?«
Ein Flüstern verfolgte Harry von dem Moment an, da er am nächsten Morgen den Schlafsaal verließ. Draußen vor den Klassenzimmern stellten sie sich auf Zehenspitzen, um einen Blick auf ihn zu erhaschen. Andere machten auf dem Weg durch den Korridor kehrt und liefen mit neugierigem Blick an ihm vorbei. Harry mochte das nicht, denn er war noch viel zu sehr damit beschäftigt, den Weg in die Klassenzimmer zu finden.
Es gab einhundertundzweiundvierzig Treppen in Hogwarts: breite, weit ausschwingende; enge, kurze, wacklige; manche führten freitags woandershin; manche hatten auf halber Höhe eine Stufe, die ganz plötzlich verschwand, und man durfte nicht vergessen sie zu überspringen. Dann wiederum gab es Türen, die nicht aufgingen, außer wenn man sie höflich bat oder sie an genau der richtigen Stelle kitzelte, und Türen, die gar keine waren, sondern Wände, die nur so taten, als ob. Schwierig war es auch, sich daran zu erinnern, wo etwas Bestimmtes war, denn alles schien ziemlich oft den Platz zu wechseln. Die Leute in den Porträts gingen sich ständig besuchen und Harry war sich sicher, daß die Rüstungen laufen konnten.
Auch die Geister waren nicht besonders hilfreich. Man bekam einen fürchterlichen Schreck, wenn einer von ihnen durch eine Tür schwebte, die man gerade zu öffnen versuchte. Der Fast Kopflose Nick freute sich immer, wenn er den neuen Gryffindors den Weg zeigen konnte, doch Peeves der Poltergeist bot mindestens zwei verschlossene Türen und eine Geistertreppe auf, wenn man zu spät dran war und ihn auf dem Weg zum Klassenzimmer traf Er leerte den Schülern Papierkörbe über dem Kopf aus, zog ihnen die Teppiche unter den Füßen weg, bewarf sie mit Kreidestückchen oder schlich sich unsichtbar von hinten an, griff sie an die Nase und schrie:»HAB DEINEN ZINKEN!«
Noch schlimmer als Peeves, wenn davon überhaupt die Rede sein konnte, war Argus Filch, der Hausmeister. Harry und Ron schafften es schon am ersten Morgen, ihm in die Quere zu kommen. Filch erwischte sie dabei, wie sie sich durch eine Tür zwängen wollten, die sich unglücklicherweise als der Eingang zum verbotenen Korridor im dritten Stock herausstellte. Filch wollte nicht glauben, daß sie sich verlaufen hatten, und war fest davon überzeugt, daß sie versucht hatten, die Tür aufzubrechen. Er werde sie beide in den Kerker sperren, drohte er, gerade als Professor Quirrell vorbeikam und sie rettete.
Filch hatte eine Katze namens Mrs. Norris, eine dürre, staubfarbene Kreatur mit hervorquellenden, lampenartigen Augen. Sie patrouillierte allein durch die Korridore. Brach man vor ihren Augen eine Regel oder setzte auch nur einen Fuß falsch auf dann flitzte sie zu Filch, der zwei Sekunden später keuchend vor einem stand. Filch kannte die Geheimgänge der Schule besser als alle andern (mit Ausnahme vielleicht der Weasley-Zwillinge) und konnte so plötzlich auftauchen wie sonst nur ein Geist. Die Schüler mochten ihn alle nicht leiden und hätten Mrs. Norris am liebsten einen gepfefferten Fußtritt versetzt.
Und dann, wenn man es einmal geschafft hatte, das Klassenzimmer zu finden, war da der eigentliche Unterricht. Wie Harry rasch feststellte, gehörte zum Zaubern viel mehr als nur mit dem Zauberstab herumzufuchteln und ein paar merkwürdige Worte von sich zu geben.