STEINER WAR SEHR wach und gespannt, als der Zug an der Grenze hielt. Die französischen Zollbeamten gingen gleichgültig und rasch durch. Sie fragten nach dem Paß, stempelten ihn und verließen das Abteil. Der Zug fuhr wieder an und rollte langsam weiter. Steiner wußte, daß in diesem Augenblick sein Schicksal entschieden war; er konnte nicht mehr zurück.
Nach einer Weile kamen zwei deutsche Beamte und grüßten. »Bitte Ihren Paß.«
Steiner nahm das Heft und gab es dem jüngeren, der gefragt hatte. »Wozu reisen Sie nach Deutschland?« fragte der andere.
»Ich will Verwandte besuchen.«
»Leben Sie in Paris?«
»Nein, in Graz. Ich habe in Paris einen Verwandten besucht.«
»Wie lange wollen Sie in Deutschland bleiben?«
»Ungefähr vierzehn Tage. Dann fahre ich wieder nach Graz zurück.«
»Haben Sie Devisen bei sich?«
»Ja. Fünfhundert Francs.«
»Wir müssen das in den Paß eintragen. Haben Sie das Geld aus Österreich mitgebracht?«
»Nein, ein Vetter in Paris hat es mir gegeben.«
Der Beamte betrachtete den Paß, dann schrieb er etwas hinein und stempelte ihn.
»Haben Sie etwas zu verzollen?« fragte der andere.
»Nein, nichts.« Steiner nahm seinen Koffer herunter.
»Haben Sie noch großes Gepäck?«
»Nein, dieses hier ist alles.«
Der Beamte sah flüchtig in den Koffer. »Haben Sie Zeitungen, Drucksachen oder Bücher bei sich?«
»Nichts.«
»Danke.« Der jüngere Beamte gab Steiner den Paß zurück. Beide grüßten und gingen. Steiner atmete auf. Er merkte plötzlich, daß er naß von Schweiß war.
Der Zug begann schneller zu fahren. Steiner lehnte sich zurück und blickte durch die Scheiben. Draußen war es Nacht, Wolken zogen rasch und niedrig über den Himmel, und dazwischen blinkten die Sterne. Kleine, halb erleuchtete Bahnhöfe flogen vorüber. Die roten und grünen Lichter der Signale huschten vorüber, und die Schienen glänzten. Steiner ließ das Fenster herunter und sah hinaus. Der feuchte Fahrtwind riß an seinem Gesicht und an seinen Haaren. Er atmete tief; es schien eine andere Luft zu sein. Es war ein anderer Wind, es war ein anderer Horizont, es war ein anderes Licht, die Pappeln an den Straßen bogen sich anders und vertrauter, die Straßen selbst führten irgendwo in sein Herz – er atmete tief, es war ihm heiß, sein Blut klopfte, die Landschaft hob sich und sah ihn an, rätselhaft und doch nicht mehr fremd – verdammt, dachte er, was ist das, ich werde sentimental! Er setzte sich wieder hin und versuchte zu schlafen – aber er konnte es nicht. Die dunkle Landschaft draußen lockte und rief, sie wurde zu Gesichtern und Erinnerungen, die schweren Jahre des Krieges standen wieder auf, als der Zug über die Rheinbrücke donnerte; das Wasser, schillernd und mit dumpfem Rauschen dahintreibend, warf hundert Namen hoch, verschollene, tote, fast schon vergessene Namen, Namen von Regimentern und Kameraden, von Städten und Lagern, Namen aus der Nacht der Jahre, es war ein Anprall, und Steiner stand plötzlich im Sturm seiner Vergangenheit und wollte sich wehren und konnte es nicht.
Er war allein im Abteil. Er zündete eine Zigarette nach der anderen an und wanderte hin und her in dem kleinen Raum. Er hatte nicht geglaubt, daß alles noch eine solche Gewalt über ihn haben könnte. Krampfhaft begann er sich zu zwingen, an morgen zu denken, daran, wie er versuchen mußte, durchzukommen, ohne Aufsehen zu erregen, an das Krankenhaus, an seine Lage, und wen von seinen Freunden er aufsuchen und fragen könnte.
Aber all das erschien ihm im Augenblick sonderbar neblig und unwirklich – es entwich ihm, wenn er es fassen wollte, sogar die Gefahr, in der er schwebte und der er entgegenfuhr, verblich zu einer abstrakten Vorstellung, sie hatte keine Kraft, sein zitterndes Blut kühl und zum Nachdenken zu zwingen, im Gegenteil, sie peitschte es mit auf zu einem Wirbel, in dem sich sein Leben wie in einem dunklen Tanz und einer mystischen Wiederkehr zu drehen schien. Da gab er es auf. Er wußte, es war die letzte Nacht; morgen würde alles überschattet sein von dem andern – es war die letzte reine Nacht im Ungewissen, im Sturm des Gefühls, es war die letzte Nacht ohne das grausame Wissen und die Klarheit des Verderbens. Er gab es auf, zu denken. Er gab sich hin.