Die Nacht entfaltete sich groß vor dem Fenster des dahinja-genden Zuges. Sie war ohne Ende, sie entfaltete sich über vierzig Jahre eines Mannes und über sein Leben, für das vierzig Jahre die Ewigkeit bedeuteten. Die Dörfer, die vorüberglitten, mit wenigen Lichtern und vereinzeltem Hundelaut, waren alle die Dörfer seiner Kindheit – er hatte in allen gespielt, über alle waren seine Sommer und Winter dahingegangen, und die Glocken ihrer Kapellen hatten überall für ihn geläutet. Die Wälder, die schwarz und verschlafen vorüberflogen, waren alle die Wälder seiner Jugend – ihr grüngoldenes Dämmer hatte seine ersten Streifzüge überschattet, in ihren glatten Teichen hatte sich sein atemloses Gesicht gespiegelt, wenn er das Leben der gefleckten Molche mit den roten Bäuchen belauerte – und der Wind, der in den Buchen harfte und in den Tannen sang, war der uralte Wind der Abenteuer gewesen. Die matt leuchtenden Straßen, die wie ein Netz die mächtigen Felder überspannten, waren alle die Straßen seiner Unruhe gewesen, er war auf ihnen allen gewandert, er hatte an ihren Kreuzungen gezögert, er kannte ihren Abschied und ihre Hoffming und ihre Wiederkehr von Horizont zu Horizont, er kannte ihre Meilensteine und die Gehöfte, die an ihnen lagen. Und die Häuser, unter deren Dächern geduckt das Licht gefangen war und wie die Verheißung von Wärme und Heimat rötlich aus den Fenstern leuchtete; er hatte in jedem ihrer Fenster gewohnt, er kannte den sanften Druck der Türklinken, er wußte, wer unter dem Lampengrund wartete, die Stirn ein wenig gesenkt, das goldene, feuerfarbene Haar übersprüht von Funken – sie, deren Gesicht überall gestanden und gewartet hatte, an allen Straßen und in allen Winkeln der Welt, verdunkelt manchmal und oft fast unsichtbar, überflutet von Sehnsucht und Vergessenwollen, das Antlitz seines Lebens, dem er nun entgegenfuhr, das Gesicht, das sich jetzt über den Nachthimmel ausbreitete, die Augen, die hinter den Wolken schimmerten, der Mund, der vom Horizont her lautlose Worte sprach, die Arme, die er schon fühlte im Wind, im Wehen der Bäume, und das Lächeln, in dem die Landschaft und sein Herz versanken im Ansturm des unendlichen Gefühls.
Er spürte, wie seine Adern schmolzen und sich öffneten, wie sein Blut hinauszuströmen schien in den verklärten Strom, der draußen flutete und es aufnahm und stärker mit ihm zurückkehrte, der seine Hände trug und sie mit sich nahm zu fernen Händen, die sich ihm entgegenstreckten, diesen kreisenden Strom, der Stück um Stück von ihm wegbröckelte und wegschwemmte, der seine Vereinzelung löste wie ein Wildwasser im Frühjahr eine Eisscholle und der ihm in dieser einzigen, endlosen Nacht das einsame Glück der Allverbundenheit gab und ihm alles an die Brust schwemmte: Sein Leben, die verlorenen Jahre, den Glanz der Liebe und das tiefe Wissen um die Wiederkehr, jenseits der Zerstörung.
20
Steiner kam morgens um elf Uhr an. Er ließ seinen Koffer in der Aufbewahrungsstelle für Gepäck und ging sofort zum Krankenhaus. Er sah die Stadt nicht; er sah nur etwas, das an ihm zu beiden Seiten vorbeitrieb, eine Flut von Häusern, Wagen und Menschen.
Vor dem großen, weißen Bau blieb er stehen. Er zögerte eine Weile. Er starrte auf das weite Portal und die endlosen Reihen der Fenster, Stock über Stock. Irgendwo dort – aber vielleicht auch nicht mehr. Er biß die Zähne zusammen und trat ein.
»Ich möchte mich erkundigen, wann Besuchsstunde ist«, sagte er im Anmeldebüro.
»Für welche Klasse?« fragte die Schwester.
»Das weiß ich nicht. Ich komme zum erstenmal.«
»Zu wem wollen Sie?«
»Zu Frau Marie Steiner.«
Steiner wunderte sich einen Augenblick, als die Schwester gleichgültig ein dickes Buch nachschlug. Er hatte fast erwartet, die weiße Halle müsse zusammenstürzen, oder die Schwester müsse aufspringen und jemand rufen, eine Wache oder Polizei, als er den Namen aussprach.
Die Schwester blätterte. »Patienten erster Klasse können jederzeit Besuch empfangen«, sagte sie, während sie suchte.
»Es wird nicht erster Klasse sein«, erwiderte Steiner. »Vielleicht dritter.«
»Für dritte Klasse ist Besuchsstunde von drei bis fünf.«
Die Schwester suchte und suchte. »Wie war doch der Name?« fragte sie.
»Steiner, Marie Steiner.« Steiner hatte plötzlich einen trockenen Hals. Er starrte die hübsche, puppenhafte Schwester an, als käme sein Todesurteil. Er wartete darauf, daß sie sagen würde: Gestorben.
»Marie Steiner«, sagte die Schwester,»zweite Klasse. Zimmer fünfhundertfünf, fünfter Stock. Besuchsstunde von drei bis sechs Uhr.«
»Fünfhundertfünf. Danke vielmals, Schwester.«
»Bitte, mein Herr!«
Steiner blieb stehen. Die Schwester griff nach dem summenden Telefon. »Haben Sie noch eine Frage, mein Herr?«
»Lebt sie noch?« fragte Steiner.
Die Schwester legte das Telefon nieder. In der Muschel quakte eine leise, blecherne Stimme weiter, als wäre das Telefon ein Tier.
»Natürlich, mein Herr«, sagte die Schwester und blickte in ihr Buch. »Sonst wäre doch ein Vermerk hinter ihrem Namen. Die Abgänge werden immer pünktlich gemeldet.«
»Danke.«