Der Mann sah ihn an. Kern glaubte noch nie einen solchen Blick gesehen zu haben. »Dich meine ich, du Scheißer!« sagte der Polizist. »Wird’s bald? Oder soll ich dir dein Gehirn noch einmal aufschütteln?«
»Ich habe keinen Paß«, sagte der Mann.
»Ich habe keinen Paß«, äffte der Polizist nach. »Natürlich, Herr Hurenbankert hat keinen Paß. Konnte man sich ja wohl denken! Los, anziehen, aber flott!«
Eine Gruppe Polizisten lief den Korridor entlang. Sie rissen die Türen auf. Einer mit Schulterstücken kam heran. »Was habt ihr denn da?«
»Zwei Vögel, die übers Dach verduften wollten.«
Der Offizier betrachtete die beiden. Er war jung. Sein Gesicht war schmal und blaß. Er trug einen sorgfältig gestutzten, kleinen Schnurrbart und roch nach Toilettewasser. Kern erkannte es; es war Eau de Cologne 4711. Sein Vater hatte eine Parfümfabrik gehabt, daher wußte er so etwas.
»Die beiden werden wir uns besonders vornehmen«, sagte der Offizier. »Handschellen!«
»Ist es der Wiener Polizei erlaubt, bei Verhaftungen zu schlagen?« fragte der Mann im Hemd.
Der Offizier sah auf. »Wie heißen Sie?«
»Steiner. Josef Steiner.«
»Er hat keinen Paß und hat uns bedroht«, erklärte der Polizist mit dem Revolver.
»Es ist noch viel mehr erlaubt, als Sie denken«, sagte der Offizier kurz.
»Marsch, ’runter!«
Die beiden zogen sich an. Der Polizist holte Handschellen hervor. »Kommt, ihr Lieblinge! So, jetzt seht ihr schon besser aus. Passen wie nach Maß.«
Kern spürte den Stahl kühl an seinen Gelenken. Es war das erste Mal in seinem Leben, daß er gefesselt wurde. Die Stahlreifen hinderten ihn beim Gehen nicht sehr. Aber ihm schien, als fesselten sie mehr als nur seine Hände.
Draußen war es früher Morgen. Vor dem Hause hielten zwei Polizeiautos. Steiner verzog das Gesicht. »Begräbnis erster Klasse! Nobel, was, Kleiner?«
Kern antwortete nicht. Er versteckte die Handschellen, so gut es ging, unter seinem Rock. Ein paar Milchkutscher standen neugierig auf der Straße. Gegenüber in den Häusern waren Fenster offen. Gesichter schimmerten wie Teig aus den dunklen Öffnungen. Eine Frau kicherte.
Ungefähr dreißig Verhaftete wurden auf die Wagen gebracht. Es waren offene Polizeiflitzer. Die meisten der Leute stiegen ohne ein Wort hinauf. Auch die Besitzerin des Hauses war darunter, eine dicke, hellblonde Frau von etwa fünfzig Jahren. Sie war die einzige, die erregt protestierte. Seit einigen Monaten hatte sie zwei leerstehende Etagen ihres baufälligen Hauses auf billigste Weise in eine Art Pension verwandelt. Es hatte sich bald herumgesprochen, daß man dort schwarz schlafen konnte, ohne bei der Polizei gemeldet zu werden. Die Frau hatte nur vier richtige Mieter mit polizeilicher Anmeldung – einen Hausdiener, einen Kammerjäger und zwei Huren. Die übrigen kamen abends, wenn es dunkel wurde. Fast alle waren Emigranten und Flüchtlinge aus Deutschland, Polen, Rußland und Italien.
»Los, los!« sagte der Offizier zu der Vermieterin. »Sie können das alles auf der Wache erklären. Da haben Sie Zeit genug dazu.«
»Ich protestiere!« schrie die Frau.
»Protestieren können Sie, soviel Sie wollen. Vorläufig kommen Sie mit.«
Zwei Polizisten faßten die Frau unter die Arme und hoben sie auf den Wagen.
Der Offizier wandte sich zu Kern und Steiner. »So, jetzt diese beiden. Extra aufpassen auf sie.«
»Merci«, sagte Steiner und stieg auf. Kern folgte ihm.
Die Autos fuhren los. »Auf Wiedersehen!« kreischte eine Frauenstimme aus den Fenstern.
»Schlagt das Emigrantenpack tot!« brüllte ein Mann hinterher. »Dann spart ihr das Futter.«
Die Polizeiautos fuhren ziemlich schnell, denn die Straßen waren noch fast leer. Der Himmel hinter den Häusern wich zurück, er wurde heller und weiter und durchsichtig blau, aber die Verhafteten standen dunkel auf den Wagen wie Weiden im Herbstregen. Ein paar Polizisten aßen belegte Brote. Sie tranken Kaffee aus flachen Blechflaschen.
In der Nähe der Aspernbrücke kreuzte ein Gemüseauto die Straße. Die Polizeiwagen bremsten und zogen dann wieder an. Im gleichen Augenblick kletterte einer der Verhafteten über den Rand des zweiten Wagens und sprang ab. Er fiel schräg auf den Kotflügel, verfing sich mit dem Mantel und schlug mit einem trockenen Knack auf das Pflaster.
»Anhalten! Hinterher!« schrie der Führer. »Schießt, wenn er nicht stehenbleibt!«
Der Wagen bremste scharf. Die Polizisten sprangen herunter. Sie liefen zu der Stelle, wo der Mann hingefallen war. Der Chauffeur sah sich um. Als er bemerkte, daß der Mann nicht flüchtete, fuhr er den Wagen langsam zurück.
Der Mann lag auf dem Rücken. Er war mit dem Hinterkopf auf die Steine geschlagen. In seinem offenen Mantel lag er da, mit ausgebreiteten Armen und Beinen, wie eine große heruntergeklatschte Fledermaus.
»Bringt ihn ’rauf!« rief der Offizier.
Die Polizisten bückten sich. Dann richtete sich einer auf. »Er muß sich was gebrochen haben. Kann nicht aufstehen.«
»Natürlich kann er aufstehen! Hebt ihn hoch!«
»Gebt ihm einen gehörigen Tritt, dann wird er schon munter«, sagte der Polizist, der Steiner geschlagen hatte, träge.