MAN BRACHTE DIE Verhafteten zur Polizeistation an der Elisabethpromenade. Steiner und Kern wurden die Handschellen abgenommen, dann kamen sie zu den andern in einen großen, halbdunklen Raum. Die meisten saßen schweigend herum. Sie waren gewohnt zu warten. Nur die dicke blonde Wirtin lamentierte unentwegt weiter.
Gegen neun Uhr wurde einer nach dem andern heraufgeholt. Kern wurde in ein Zimmer geführt, in dem sich zwei Polizisten, ein Schreiber in Zivil, der Offizier und ein älterer Polizeioberkommissär befanden. Der Oberkommissär saß in einem hölzernen Sessel und rauchte Zigaretten. »Personalien«, sagte er zu dem Mann am Tisch.
Der Schreiber war ein schmaler, pickliger Mensch, der an einen Hering erinnerte. »Name?« fragte er mit einer überraschend tiefen Stimme.
»Ludwig Kern.«
»Geboren?«
»Dreißigster November neunzehnhundertvierzehn in Dresden.«
»Also Deutscher?«
»Nein. Staatenlos. Ausgebürgert.«
Der Oberkommissär blickte auf. »Mit einundzwanzig? Was haben’s denn angestellt?«
»Nichts. Mein Vater ist ausgebürgert worden. Da ich damals minderjährig war, ich auch.«
»Und weshalb Ihr Vater?«
Kern schwieg einen Augenblick. Ein Jahr Emigration hatte ihn Vorsicht mit jedem Wort bei Behörden gelehrt. »Er wurde zu Unrecht als politisch unzuverlässig denunziert«, sagte er schließlich.
»Jude?« fragte der Schreiber.
»Mein Vater. Meine Mutter nicht.«
»Aha!«
Der Oberkommissär schnippte die Asche seiner Zigarette auf den Boden. »Warum sind Sie denn nicht in Deutschland geblieben?«
»Man hat uns unsere Pässe abgenommen und uns ausgewiesen. Wir wären eingesperrt worden, wenn wir geblieben wären. Und wenn wir eingesperrt werden mußten, wollten wir es lieber in einem anderen Lande als in Deutschland.«
Der Oberkommissär lachte trocken. »Kann ich verstehen. Wie sind Sie denn ohne Paß über die Grenze gekommen?«
»An der tschechischen Grenze genügte damals für den kleinen Grenzverkehr ein einfacher Einwohner-Meldeschein. Den hatten wir noch. Man konnte damit drei Tage in der Tschechoslowakei bleiben.«
»Und nachher?«
»Wir bekamen drei Monate Aufenthaltserlaubnis. Dann mußten wir fort.«
»Wie lange sind Sie schon in Österreich?«
»Drei Monate.«
»Warum haben Sie sich nicht bei der Polizei gemeldet?«
»Weil ich dann sofort ausgewiesen worden wäre.«
»Na, na!« Der Oberkommissär schlug mit der flachen Hand auf die Sessellehne. »Woher wissen Sie das so genau?«
Kern verschwieg, daß er und seine Eltern sich das erste Mal, als sie über die österreichische Grenze gegangen waren, sofort bei der Polizei gemeldet hatten. Sie waren am gleichen Tage über die Grenze zurückgeschoben worden. Als sie dann wiederkamen, hatten sie sich nicht mehr gemeldet.
»Ist es vielleicht nicht wahr?« fragte er.
»Sie haben hier nicht zu fragen; Sie haben nur zu antworten«, sagte der Schreiber grob.
»Wo sind Ihre Eltern jetzt?« fragte der Oberkommissär.
»Meine Mutter ist in Ungarn. Sie hat dort eine Aufenthaltserlaubnis bekommen, weil sie ungarischer Herkunft ist. Mein Vater ist verhaftet und ausgewiesen worden, als ich nicht im Hotel war. Ich weiß nicht, wo er ist!«
»Was sind Sie von Beruf?«
»Ich war Student.«
»Wovon haben Sie gelebt?«
»Ich habe etwas Geld.«
»Wieviel?«
»Ich habe zwölf Schilling hier. Das andere habe ich bei Bekannten.«
Kern besaß nicht mehr als die zwölf Schilling. Er hatte sie verdient durch Handel mit Seife, Parfüm und Toilettewasser. Hätte er das jedoch zugegeben, wäre er auch wegen verbotener Arbeit strafbar gewesen.
Der Oberkommissär erhob sich und gähnte. »Sind wir durch?«
»Es ist noch einer unten«, sagte der Schreiber.
»Wird auch dasselbe sein. Viel Gescher und wenig Wolle.« Der Oberkommissär warf einen schiefen Blick auf den Offizier. »Alles Leute, die illegal eingereist sind. Sieht nicht nach kommunistischem Komplott aus, was? Wer hat denn die Anzeige gemacht?«
»Jemand, der auch so eine Bude hat. Nur mit Wanzen«, sagte der Schreiber. »Geschäftsneid wahrscheinlich.«
Der Oberkommissär lachte. Dann sah er, daß Kern noch im Zimmer war. »Bringt ihn hinunter. Sie wissen ja, was es gibt: vierzehn Tage Haft und Ausweisung.« Er gähnte nochmals. »Na, ich geh’ auf ein Gulasch und ein Bier.«
MAN BRACHTE KERN in eine kleinere Zelle als vorher. Außer ihm befanden sich noch fünf der Verhafteten darin; darunter der Pole, der mit im Zimmer geschlafen hatte. Nach einer Viertelstunde brachte man auch Steiner. Er setzte sich neben Kern. »Das erstemal im Kasten, Kleiner?«
Kern nickte.
»Und? Fühlst dich wie ein Mörder, was?«
Kern verzog die Lippen. »Ungefähr. Gefängnis – ich habe da noch so Vorstellungen von früher her.«
»Das hier ist nicht Gefängnis«, belehrte Steiner ihn. »Es ist Haft. Gefängnis kommt später.«
»Warst du schon drin?«
»Ja. Wirst es dir das erstemal zu Herzen nehmen. Dann nicht mehr. Besonders im Winter nicht. Hast wenigstens Ruhe während der Zeit. Ein Mensch ohne Paß ist eine Leiche auf Urlaub. Hat sich eigentlich nur umzubringen, sonst nichts.«
»Und mit Paß? Mit Paß bekommst du doch auch nirgendwo im Ausland Arbeitserlaubnis.«