»Sie wohnt da bei Bekannten. Du wirst eben auch bald in Zürich sein, das ist alles. Hier wird es ohnedies langsam heiß.«
»Ja…«
Lilo kam. Sie begrüßte Kern, als sei er auf einem Spaziergang gewesen. Für sie waren zwei Monate nichts, was zu erörtern war. Sie lebte seit fast zwanzig Jahren außerhalb Rußlands und hatte Menschen von China und Sibirien wiederkommen sehen, die zehn, fünfzehn Jahre verschollen gewesen waren. Mit ruhigen Bewegungen stellte sie ein Tablett mit Tassen und einer Kanne Kaffee auf den Tisch.
»Gib ihm seine Briefe, Lilo«, sagte Steiner. »Er frühstückt doch nicht eher.«
Lilo zeigte auf das Tablett. Die Briefe lehnten dort an einer Tasse. Kern riß sie auf. Er begann zu lesen, und plötzlich vergaß er alles. Es waren die ersten Briefe, die er von Ruth bekam. Es waren die ersten Liebesbriefe seines Lebens. Alles fiel durch Zauberei von ihm ab – die Enttäuschung, daß sie nicht da war, die Unruhe, die Angst, die Unsicherheit, das Alleinsein -, er las und die schwarzen Tintenstriche begannen zu leuchten und zu phosphoreszieren – da war auf einmal ein Mensch, der sich um ihn sorgte, der verzweifelt war über das, was geschehen war, und der ihm sagte, daß er ihn liebe. Deine Ruth. Deine Ruth. Mein Gott, dachte er, deine Ruth! Deine! Es schien fast unmöglich. Deine Ruth. Was hatte ihm bisher schon gehört? Was war sein gewesen? Ein paar Flaschen, etwas Seife und die Sachen, die er trug. Und jetzt ein Mensch? Ein ganzer Mensch? Das schwere, schwarze Haar, die Augen! Es war fast unmöglich!
Er blickte auf. Lilo war zum Wagen gegangen. Steiner rauchte eine Zigarette. »Alles in Ordnung, Baby?« fragte er.
»Ja. Sie schreibt, ich solle nicht kommen. Ich solle nicht noch einmal ihretwegen etwas riskieren.«
Steiner lachte. »Was sie alles so schreiben, was?« Er goß ihm eine Tasse Kaffee ein. »Komm, trink das erst einmal und iß.«
Er lehnte sich an den Wagen und sah Kern zu, wie er aß und trank. Die Sonne kam durch den dünnen, weißen Nebel. Kern fühlte sie auf seinem Gesicht; er fühlte sie, als atme er Wein ein. Am Morgen vorher hatte er aus einer abgestoßenen Blechschale in einem stinkenden Raum eine lauwarme Brühe gelöffelt, und der Landstreicher Leo hatte dazu ein Furzkonzert gegeben – seine Spezialität nach dem Aufwachen. Jetzt wehte ein leichter, frischer Morgenwind über seine Hände, er aß weißes Brot und trank guten Kaffee dazu, ein Brief Ruths knisterte in seiner Tasche, und Steiner lehnte neben ihm am Wagen.
»Einen Vorteil hat es, wenn man im Kasten war«, sagte er. »Alles nachher ist wunderbar.«
Steiner nickte. »Du möchtest am liebsten heute abend los, was?« fragte er.
Kern sah ihn an. »Ich möchte weg, und ich möchte hierbleiben. Ich wollte, wir könnten alle zusammen gehen.«
Steiner gab ihm eine Zigarette. »Bleib vorläufig mal zwei, drei Tage hier«, sagte er. »Du siehst erbärmlich aus. Der Gefängnisfraß hat dich ’runtergebracht. Futtere dich hier etwas heraus. Du brauchst Mark in den Knochen für die Landstraße. Besser, du wartest ein paar Tage, als daß du unterwegs zusammenklappst und geschnappt wirst. Die Schweiz ist kein Kinderspiel. Fremdes Land – da muß man gut beieinander sein.«»Kann ich hier denn irgend etwas tun?«
»Du kannst in der Schießbude helfen. Und abends beim Hellsehen. Dafür habe ich zwar schon jemand anders nehmen müssen; aber zwei sind immer besser.«
»Gut«, sagte Kern. »Du hast sicher recht. Ich muß mich wohl erst etwas zurechtfinden, bevor ich losgehe. Ich habe irgendwie einen entsetzlichen Hunger. Nicht nur im Magen – in den Augen, im Kopf, überall. Besser, ich werde erst einmal ein bißchen klarer.«
Steiner lachte. »Richtig! Da kommt Lilo mit heißen Piroggen. Iß gründlich, Baby. Ich gehe inzwischen Potzloch aufwecken.«
Lilo stellte die Platte vor Kern hin. Er begann aufs neue zu essen. Zwischendurch tastete er nach seinen Briefen.
»Bleiben Sie hier?« fragte Lilo in ihrem langsamem, etwas harten Deutsch.
Kern nickte.
»Keine Angst«, sagte Lilo. »Sie müssen keine Angst haben um Ruth. Sie kommt durch. Ich kenne Gesichter.«- Kern wollte ihr sagen, daß er deswegen keine Angst habe. Daß er nur Sorge habe, sie könne in Zürich gefaßt werden, bevor er ankäme… Doch ein Blick in das dunkle, von einer ungeheuren Trauer überschattete Gesicht der Russin ließ ihn verstummen. Alles war klein und belanglos dagegen. Aber sie schien trotzdem etwas gespürt zu haben. »Nicht schlimm«, sagte sie. »Solange anderer lebt, nie schlimm.«
ES WAR ZWEI Tage später, nachmittags. Ein paar Leute schlenderten auf die Schießbude zu. Lilo war mit einer Gruppe junger Burschen beschäftigt, und die Leute kamen zu Kern. »Los! Schießen wir einmal!«
Kern gab dem ersten eine Büchse. Die Leute schössen zunächst ein paarmal auf Figuren, die herunterrasselten, und auf dünne Glaskugeln, die im Strahl eines kleinen Springbrunnens tanzten. Dann begannen sie die Prämientafel zu studieren und forderten Scheiben, um sich Gewinne zu erschießen.