Direktor Potzloch war wütend wegen des Picknickkorbes. »Ein Wert von dreißig Schilling, junger Mann, netto, Einkauf en gros«, trompetete er. »Sie ruinieren mich!«
»Er geht ja«, sagte Steiner und erklärte ihm die Sachlage. »Es war reine Notwehr«, schloß er. »Ihr Familienerbstück wäre verloren gewesen.«
Potzloch erschrak nachträglich und verklärte sich dann. »Also gut, das ist was anderes.« Er zahlte Kern seine Gage aus und führte ihn darauf vor die Schießbude. »Junger Mann«, sagte er,»Sie sollen Leopold Potzloch kennenlernen, den letzten Menschenfreund! Suchen Sie sich hier von den Sachen was aus! Als Andenken. Zum Verkaufen natürlich. Ein ordentlicher Mensch behält keine Andenken. Verbittern nur das Leben. Sie werden doch etwas handeln, wie? Suchen Sie aus! A discrétion…«
Er verschwand in der Richtung des Panoramas der Sensationen. »Tue es ruhig«, sagte Steiner. »Schund geht immer. Nimm kleine, leichte Sachen. Tue es rasch, ehe Potzloch es bereut.«
Aber Potzloch bereute nicht. Im Gegenteil: er gab auf die Aschbecher, Kämme und Würfel, die Kern sich ausgesucht hatte, freiwillig noch drei kleine nackte Göttinnen aus echtem Bronzeersatz hinzu. »Wird Ihr größter Erfolg sein in kleineren Städten«, erläuterte er und griff hohnlachend nach seinem Zwicker. »Der Mensch der Kleinstadt kennt die dumpfe Brunst. Kleinstadt ohne Bordell natürlich! Und nun Gott befohlen, Kern! Ich muß zu einer Konferenz gegen die hohe Lustbarkeitssteuer. Lustbarkeitssteuer! Typisch für dies Jahrhundert! Anstatt eine Prämie dafür auszusetzen!«
Kern packte seine Koffer. Er wusch seine Strümpfe und seine Hemden und hängte sie zum Trocknen auf. Dann aß er mit Lilo und Steiner zu Abend.
»Sei traurig, Kleiner«, sagte Steiner. »Es ist dein Recht. Die alten griechischen Helden weinten mehr als eine sentimentale Närrin unserer Tage. Sie wußten, daß man es nicht herunterfressen soll. Wir haben als Ideal die unbeugsame Courage einer Statue. Gar nicht nötig. Sei traurig, dann bist du es bald los.«
»Traurigkeit ist manchmal – letztes Glück«, sagte Lilo ruhig und gab Kern einen Teller Borschtsch mit Sahne.
Steiner lächelte und strich ihr übers Haar. »Letztes Glück für dich, kleiner Kosmopolit, soll vorläufig eine gute Mahlzeit sein. Die alte Soldatenweisheit. Und du bist ein Soldat, vergiß das nicht. Ein Vorposten. Eine Patrouille. Ein Pionier des Weltbürgertums. Zehn Zollgrenzen kannst du mit einem Flugzeug an einem Tage überfliegen; jede hat die andere nötig-und alle panzern sich mit Eisen und Pulver bis an den Hals gegeneinander. Das bleibt nicht. Du bist einer der ersten Europäer – vergiß das nicht. Sei stolz darauf.«
Kern lächelte. »Alles ganz schön. Ich bin auch stolz darauf. Aber was mache ich heute abend, wenn ich allein bin?«
ER FUHR MIT dem Nachtzuge ab. Er nahm die billigste Klasse und den billigsten Zug und kam auf Umwegen bis Innsbruck. Von da ging er zu Fuß weiter und wartete auf ein Auto, das ihn mitnehmen sollte. Er fand keins. Abends ging er in ein kleines Gasthaus und aß eine Portion Bratkartoffeln; das sättigte und kostete wenig. Nachts schlief er in einem Heustadel. Er wandte dabei die Technik an, die der Dieb im Gefängnis ihm beigebracht hatte. Sie war erstklassig. Am nächsten Morgen fand er ein Auto, das ihn bis Landeck mitnahm. Der Besitzer kaufte ihm für fünf Schilling eine der Göttinnen Direktor Potzlochs ab. Abends begann es zu regnen. Kern blieb in einem kleinen Gasthof und spielte Tarock mit ein paar Holzfällern. Dabei verlor er drei Schilling. Er ärgerte sich so darüber, daß er bis Mitternacht nicht einschlafen konnte. Aber dann fand er es noch ärgerlicher, daß er zwei Schilling für den Schlaf bezahlt hatte und auch noch darum kam; darüber schlief er ein. Morgens ging er weiter. Er hielt ein Auto an, aber der Fahrer verlangte fünf Schilling Fahrgeld von ihm. Es war ein Austro-Daimler im Werte von 15 000 Schilling. Kern verzichtete. Später nahm ihn ein Bauer ein Stück auf seinem Wagen mit und schenkte ihm ein großes Butterbrot. Abends schlief er im Heu. Es regnete, und er lauschte lange auf das monotone Geräusch und roch den herben und erregenden Duft des nassen, gärenden Heus. Am nächsten Tag erkletterte und überschritt er den Arlbergpaß. Er war sehr müde, als er oben von einem Gendarmen abgefaßt wurde. Trotzdem mußte er den Weg zurück neben dem Fahrrad des Gendarmen her bis St. Anton machen. Dort sperrte man ihn eine Nacht ein. Er schlief keine Minute, weil er fürchtete, man würde herausbekommen, daß er in Wien gewesen sei, und ihn zurückschicken und dort verurteilen. Aber man glaubte ihm, daß er über die Grenze wollte und ließ ihn am nächsten Morgen laufen. Er gab jetzt seinen Koffer als Frachtgut bis Feldkirch auf, weil der Gendarm ihn daran erkannt hätte. Einen Tag später war er in Feldkirch, holte seinen Koffer, wartete bis nachts, zog sich aus und überschritt den Rhein, Koffer und Kleider in den hoch erhobenen