»Jesus Christus!« sagte der Pole. »Geht Scheiße dann wieder los.«
»Möchtest du hier bleiben?« fragte das Poulet.
»Wenn Essen bessärr – und kleine Posten als Kalfaktor – gärrne.«
Kern nahm sein Taschentuch hervor und rieb seinen Anzug sauber, so gut es ging. Sein Hemd war sehr schmutzig geworden in den vierzehn Tagen. Er drehte die Manschetten um. Er hatte sie die ganze Zeit geschont. Der Pole sah ihm zu. »In ein, zwei Jahren das dirr ganz eggal«, prophezeite er.
»Wohin gehst du?« fragte das Poulet.
»Tschechei. Und du? Nach Ungarn?«
»Schweiz. Hab’s mir überlegt. Komm mit. Von da lassen wir uns dann nach Frankreich schieben.«
Kern schüttelte den Kopf. »Nein, ich will sehen, daß ich nach Prag komme.«
Ein paar Minuten später wurde Steiner wieder hereingebracht. »Weißt du, wie der Polizist heißt, der mich bei der Verhaftung ins Gesicht geschlagen hat?« fragte er Kern. »Leopold Schäfer. Er wohnt Trautenaugasse siebenundzwanzig. Sie haben es mir aus dem Protokoll vorgelesen. Natürlich nicht, daß er mich geschlagen hat. Nur daß ich ihn bedroht hätte.« Er sah Kern an. »Glaubst du, daß ich den Namen und die Adresse vergessen werde?«
»Nein«, sagte Kern. »Bestimmt nicht.«
»Das meine ich auch!«
Ein Kriminalbeamter in Zivil holte Steiner und Kern ab. Kern war aufgeregt. Vor der Tür blieb er unwillkürlich stehen. Das Bild, das er sah, prallte wie ein weicher, südlicher Wind gegen seine Stirn. Der Himmel war blau und ein wenig dämmerig über den Häusern, die Giebel leuchteten im letzten, roten Schein der Sonne, der Donaukanal schimmerte, und auf der Straße schoben sich beglänzte Autobusse durch den Strom heimkehrender und spazierender Menschen. Eine Schar Mädchen in hellen Kleidern drängte lachend und eilig dicht vorbei. Kern glaubte, noch nie etwas so Schönes gesehen zu haben.
»Los, gehen wir«, sagte der Kriminalbeamte.
Kern zuckte zusammen. Beschämt sah er an sich herunter. Er bemerkte, daß ein Vorbeigehender ihn ungeniert musterte. Sie gingen durch die Straßen, der Beamte in der Mitte. Die Cafés hatten Tische und Stühle herausgestellt, und überall saßen fröhliche, plaudernde Menschen. Kern senkte den Kopf und begann, schneller zu gehen. Steiner sah ihn mit gutmütigem Spott an. »Na, Kleiner, ist nichts für uns, was? Das da.«
»Nein«, erwiderte Kern und preßte die Lippen zusammen.
Sie kamen zu ihrer Pension. Die Wirtin empfing sie mit einer Mischung von Ärger und Mitleid. Sie gab ihnen ihre Sachen gleich heraus. Es war nichts gestohlen worden. Kern hatte in der Zelle die Absicht gehabt, ein sauberes Hemd anzuziehen, aber jetzt, nachdem er durch die Straßen gegangen war, tat er es nicht. Er nahm den zerstoßenen Koffer unter den Arm und bedankte sich bei der Wirtin.
»Es tut mir leid, daß Sie solche Unannehmlichkeiten hatten«, sagte er.
Die Wirtin wehrte ab. »Lassen Sie sich’s nur gut gehen. Und Sie auch, Herr Steiner. Wo soll’s denn hin?«
Steiner machte eine ziellose Geste. »Den Weg der Grenzwanzen. Von Gebüsch zu Gebüsch.«
Die Wirtin stand einen Augenblick unentschlossen. Dann trat sie mit energischem Schritt an ein Wandschränkchen aus Nußbaumholz, das in Form einer mittelalterlichen Burg gearbeitet war. »Nehmen Sie noch einen auf den Weg…«
Sie holte drei Gläser und eine Flasche hervor und schenkte ein.
»Sliwowitz?« fragte Steiner.
Sie nickte und bot dem Beamten auch ein Glas an.
Der wischte sich den Schnurrbart. »Unsereins tut schließlich nur seine Pflicht«, erklärte er.
»Natürlich!« Die Wirtin goß sein Glas wieder voll. »Warum trinken Sie denn nicht?« fragte sie Kern.
»Ich kann nicht. So auf den leeren Magen…«
»Ach so!« Die Wirtin blickte ihn prüfend an. Sie hatte ein schwammiges, kaltes Gesicht, das jetzt unversehens wärmer wurde. »Gott ja, er wächst wohl noch«, murmelte sie. »Franzi«, rief sie dann. »Ein belegtes Brot!«
»Danke, das ist nicht nötig«, Kern errötete. »Ich habe keinen Hunger.«
Die Kellnerin brachte ein großes doppeltes Schinkenbrot. »Zieren Sie sich nicht«, sagte die Wirtin. »Vorwärts.«
»Willst du nicht die Hälfte?« fragte Kern Steiner. »Es ist zuviel für mich.«
»Rede nicht! Iß!« erwiderte Steiner.
Kern aß das Schinkenbrot auf und trank ein Glas Sliwowitz.
Dann verabschiedeten sie sich. Sie fuhren mit der Straßenbahn zum Ostbahnhof. Im Zug fühlte sich Kern plötzlich sehr müde. Das Rattern des Wagens schläferte ihn ein. Er sah die Häuser wie im Traum vorübergleiten, Fabrikhöfe, Straßen, Wirtsgärten mit hohen Nußbäumen, Wiesen, Felder und die sanfte, blaue Dämmerung des Abends. Er war satt, das wirkte auf ihn wie ein Rausch. Seine Gedanken wurden unscharf, sie verloren sich in Träumen – von einem weißen Hause zwischen blühenden Kastanien, von einer Deputation feierlicher Menschen in Gehröcken, die ihm einen Ehrenbürgerbrief überreichten, und von einem uniformierten Diktator, der ihn weinend kniefällig um Entschuldigung bat.
Es war fast dunkel, als sie am Zollhaus ankamen. Der Kriminalbeamte übergab sie der Zollwache und stapfte dann zurück durch die fliederfarbene Dämmerung.