Wenn Kim nicht in diesem Moment aufgeschrien hätte, ein hoher, spitzer Schrei, als sie über die Liege stolperte, das Gleichgewicht verlor und hinschlug, wäre ich vielleicht wie gelähmt stehen geblieben und Steel hätte mich doch noch erwischt, mit seinem wie eine Baggerschaufel vorgestreckten linken Arm, der mich zerquetschen würde, ohne mir die Chance zur Gegenwehr zu geben.
Doch Kims Schrei riss mich aus meiner Erstarrung und es wurde mir schlagartig klar, dass es um mehr ging, als nur dieses Monster zu besiegen. Mit einem verzweifelten Satz steppte ich beiseite und Steel stolperte an mir vorbei. Mit einer uneleganten, plumpen Drehung versuchte er die Richtung zu ändern und seine Hand schrammte an meiner Wange vorbei. Doch dann knickte er in die Knie ein, röchelte und fiel schwer wie ein Sack vornüber.
Ich kümmerte mich nicht weiter um ihn. Mein Blick galt nur noch Ray, der mittlerweile in sich zusammengesackt war; auf allen vieren lag er am Boden und sein Kopf stand seltsam schief vom Körper ab; überall war Blut, so schrecklich viel Blut, und immer noch sprudelte Blut aus der Halsschlagader hervor, aber es war ein versiegender Lebensfluss und wenn er zum Stillstand gekommen war, würde auch Ray tot sein.
Mit ein paar wenigen Schritten war ich bei meinem Bruder. Ich ließ mich neben ihm nieder, packte sein Handgelenk und suchte seinen Pulsschlag – obwohl ich schon vorher wusste, dass ich dort nichts finden würde, suchte ich verzweifelt nach einem Lebenszeichen, einem Ansatz für Hoffnung.
Aber es gab keine mehr. Seine Augen starrten gebrochen und tot durch mich hindurch und um seine Mundwinkel stand ein Lächeln, das ich nicht verstand, das ich umso grausamer fand angesichts der Qual, in der er hatte sterben müssen. Tränen stiegen in meine Augen und rannen mir die Wangen hinab. Ich verstand es nicht. Ich verstand einfach nicht, dass er hatte sterben müssen. Wo war der Sinn in all dem?
Ich hörte ein Geräusch hinter mir und drehte mich langsam um. Fast erwartete ich, dass sich Steel wieder aufgerappelt hatte, und fast war es mir egal. Aber es war Kim, die auf mich zustolperte; ihre Augen waren riesig, ihre Lippen zitterten, ihr Gesicht war vor Schrecken aschfahl. »Ist er...?«, fragte sie.
Ich nickte langsam und erneut stiegen mir Tränen in die Augen. »Ja«, sagte ich mit belegter Stimme. »Er ist tot.«
Ich weiß nicht, wie lange ich so neben ihm hockte, mit Kim hinter mir, die mir die Hand auf die Schulter gelegt hatte und leise schluchzte. Vielleicht waren es nur wenige Sekunden, vielleicht etliche Minuten – doch sie erschienen mir wie eine Ewigkeit. Szenen aus unserer gemeinsamen Jugend kamen mir in den Sinn, abgehackt und durcheinander gewirbelt, und ich bekam keinen einzigen Erinnerungsfetzen wirklich zu fassen. Es war so unbegreiflich. So ohne Sinn. Der Junge, mit dem ich groß geworden war, der Junge, mit dem ich gestritten, gerauft und herrliche Zeiten verlebt hatte – der war jetzt tot. Und irgendwie war ich für seinen Tod verantwortlich; ich hatte den Stein ins Rollen gebracht, der ihn schließlich mit hinab ins Verderben gezogen hatte.
Schließlich erhob ich mich wieder. Es kostete mich Überwindung, Rays Hand loszulassen; diese Geste hatte etwas erschreckend Endgültiges. Doch es war weder der rechte Ort noch die rechte Zeit zum Trauern. Ich musste Kim hier herausbringen – und dann musste ich meinen Eltern beibringen, irgendwie, dass ich ihren Sohn Ray auf dem Gewissen hatte.
Als Kim und ich uns gegenüberstanden, konnten wir gar nicht anders, als uns in die Arme zu fallen. Es hatte etwas Verzweifeltes an sich, wie bei einem Liebespaar, das vom Schicksal auseinander gerissen wird und weiß, das es sich wahrscheinlich nie wieder sehen wird, oder wie bei einem Soldaten, der sich von seiner Liebsten am Bahnhof verabschiedet, wohl wissend, dass die Floskel
Ein erstickter, schrecklicher Laut ließ uns zusammenfahren; mehr ein ersticktes Röcheln als ein Schrei. Zuerst glaubte ich, es sei Ray, der doch noch nicht vollkommen tot war und den wir einfach im Sterben hatten liegen lassen, ohne uns die Mühe zu geben, ihm beizustehen – aber ein rascher Blick überzeugte mich davon, dass ich mich geirrt hatte. Es war auch nicht Steel, der von den Toten wieder auferstanden war oder der vielleicht gar nicht tödlich verletzt worden war und nun aus einer Bewusstlosigkeit erwachte.