Die Frage erübrigte sich. Denn im gleichen Augenblick begannen die Alarmsirenen loszuwimmern. Und irgendetwas krachte gegen die Tür, die Marcel gerade abgeschlossen hatte, mit grausamer Wucht und so ungestüm, dass sie in den Grundfesten erbebte. Die Geräusche vermischten sich zu einem ohrenbetäubenden Crescendo, das jeden bewussten Gedanken mit sich riss. Die Tür splitterte und bevor ich begriff, was überhaupt vor sich ging, sprang sie aus den Angeln und uns geradezu entgegen, wie ein eigenständiges Wesen, wie der verzauberte Besen aus dem Zauberlehrling, der sich nicht mehr bremsen ließ in seiner unnatürlichen Lebendigkeit. Die Tür drehte sich einmal um ihre Achse und stürzte dann krachend zu Boden. In der Wolke aus Staub und Splittern, die sie aufgewirbelt hatte, erkannte ich zwei Gestalten, die mit gezogenen Waffen in der Tür standen.
Ich hatte entsetzliche Angst. Nicht wegen der Gefahr, in der wir zweifelsohne schwebten. Sondern davor, dass ich Kim wieder verlieren könnte, so kurz nachdem ich sie wieder gefunden hatte. Das konnte und wollte ich nicht zulassen.
Aber es war nicht Marcel und auch nicht ich, der schnell genug reagierte. Es war ausgerechnet Ray, der verstörte und völlig ausgebrannt wirkende Ray, der noch nicht einmal eine Waffe in der Hand hielt. Mit geradezu traumwandlerischer Sicherheit drehte er sich einmal um seine eigene Achse, zog die Pistole aus seinem Hosenbund, entsicherte sie und schoss fast im gleichen Moment.
Er traf Dirk mitten ins Gesicht. Es war fürchterlich. Der Schuss hallte schmerzhaft in meinen Ohren wider und mischte sich mit Dirks Schrei, ein Schrei des Entsetzens, der sich in nichts von dem unterscheiden mochte, was ein zu Tode getroffener Seeadler ausstoßen würde. Das hagere, ungleichmäßige Gesicht des Majestic-Agenten wurde regelrecht zerschmettert; eine rote Wolke spritzte weg und traf den Kaugummi kauenden Jungen, der zum Zeitpunkt des Treffers direkt an Dirks Seite war.
Ray handelte, als stände er auf einem Schießstand und als ginge es lediglich darum, den schwarzen Punkt inmitten der Zielscheibe zu treffen. Ein zweiter Schuss löste sich aus seiner Waffe zeitgleich mit einem Schuss, den der zweite Agent abgab. Vor vielen Jahren hatte Ray einmal mit einem Kleinkalibergewehr Kaninchen gejagt, aber als er mit einem von ihm erlegten Kaninchen nach Hause gekommen war, hatte er von unserem Dad eine gehörige Tracht Prügel bekommen. Mich hatte beides sehr beeindruckt, zumal ich nie auf die Idee gekommen wäre, ohne Not ein wehrloses Tier zu erschießen. Aber ich hatte weder gewusst, welch guter Schütze Ray war, noch, wie wenig ihm ein Menschenleben bedeutete.
Der Agent hatte keine Chance. Wenn sein Gesicht eine Zielscheibe gewesen wäre, hätte Ray ungefähr dort getroffen, wo eine Drei einen durchaus akzeptablen Treffer markiert hätte: Die Kugel zerschmetterte seinen linken Wangenknochen und trat irgendwo hinterm Ohr wieder aus, um als Querschläger in die Decke zu sausen. Der Schuss des Jungen ging dagegen ins Leere, traf hinter uns die Wand.
Ich weiß nicht, was mir in diesem Moment an Gedanken durch den Kopf schoss. Es war das grauenhafte Gefühl, etwas beizuwohnen, was vollkommen außer Kontrolle geraten war.
»Bist du wahnsinnig?«, schrie ich Ray an.
Er drehte sich zu mir um und steckte die Pistole wieder ein. »Wieso?«, fragte er knapp. »Sie oder wir.«
Ich sah, wie sich Marcel auf die Lippen biss. In seinem Gesicht arbeitete es. »Das war nicht nötig«, sagte er schließlich und, wie ich fand, in maßloser Untertreibung. Als Ray etwas erwidern wollte, hob er nur die Hände. »Keine Diskussionen jetzt. Wir müssen sehen, dass wir hier wegkommen.«
Genau das traf die Sache auf den Punkt. Denn auf der gegenüberliegenden Seite, dort, wo sich die Nottreppe wie ein stämmiger, massiver Baumstamm durch das Gebäude zog, bewegte sich etwas, rief jemand und dann ging alles im erneuten Schrillen der Alarmsirene unter. Ich packte Kim bei den Schultern und stieß sie vor mir her. Wir hetzten den Gang hinab, keine Sekunde zu früh. Schwere Schritte waren plötzlich hinter uns und jemand schrie: »Bleibt stehen oder ich knalle euch ab!«
Ich konnte es ihnen nicht verdenken. Steel hatte mindestens vier Menschen auf dem Gewissen, Ray jetzt zwei. Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass es in Majestic schon jemals zuvor ein solches Blutbad gegeben hätte. Sie würden sich nicht die Mühe machen zu differenzieren, wer geschossen hatte. Für sie mussten wir ein Haufen Verrückte sein und das Einzige, was sie daran hindern konnte, sofort das Feuer zu eröffnen, war wohl der Befehl Bachs, uns nach Möglichkeit lebend zu schnappen.