Ray stolperte hinter uns her, und das keinen Augenblick zu früh. Ein metallisches Kreischen hinter uns bewies, dass ich mit meinen Befürchtungen nur zu Recht gehabt hatte; die Kabine senkte sich, auf der einen Seite stärker als auf der anderen, und dann krachte die ganze Metallkonstruktion hinab, angezogen vom Sog der Schwerkraft donnerte sie den Aufzugsschacht hinab. Als sie unten aufschlug, schien einen Moment die Erde zu beben, und das trotz des Stahlbetons, mit dem das Gebäude unter der Erde ausgegossen war. Es war wie ein Treffer einer Haubitze, vernichtend und endgültig: ein dumpfer, harter Knall, der in ein Wimmern und metallisches Reihen überging. Dann war es still.
»Das war knapp«, sagte Marcel. Aber es war keine Erleichterung in seiner Stimme. Es war Teil seiner Persönlichkeit, die Dinge realistisch zu sehen, wenn sich die Ereignisse überschlugen, das begriff ich jetzt. Und ich verstand auch, warum Bach ihn gleichermaßen faszinierend wie abstoßend fand: In einer Gefahrensituation waren sich die beiden Männer sehr ähnlich. Wenn die Gefahr gebannt war, verhielten sie sich jedoch vollkommen unterschiedlich. Marcel war sensibel und voller Skrupel, auf der Suche nach einer Wahrheit, die nicht nur etwas mit rein körperlich Fassbarem zu tun hatte. Bach dagegen war ein eiskalter Hund, der jeden opfern würde, wenn es in sein Spiel um Macht und Erfolg passte – seine eigenen Männer nicht ausgenommen.
»Da vorne ist Licht«, sagte Kim. Ihre Stimme verhallte in dem Gang wie in einem mittelalterlichen Gemäuer.
Marcel nickte. »Die Beleuchtung scheint auf diesem Stockwerk prinzipiell zu funktionieren. Vielleicht sind hier nur ein paar Birnen kaputt.« Er wechselte das Feuerzeug von einer Hand in die andere. Wahrscheinlich fing es an, heiß zu werden. »Was ich allerdings nicht weiß, ist,
»Ein geheimer Sicherheitsbereich«, vermutete ich. »Ein weiteres Spielzeug von Bach, in das zig Millionen geflossen sind.«
»Möglich«, sagte Marcel. »Aber dieses Stockwerk sieht anders aus als alle anderen. Der Gang ist schmaler. Und soweit ich erkennen kann, ist er auch anders angelegt als die oberen Stockwerke. Nein, ich glaube beinahe, das hier ist älter als das, was Bach auf Kosten des Senats verbaut hat.«
»Mir ist egal, wo wir sind«, sagte Ray. »Wir sollten uns jetzt zum Licht begeben und dann beratschlagen, was wir machen sollen.«
Ich fuhr überrascht zu meinem Bruder herum. Seine Stimme klang so frisch und befehlsgewohnt wie üblich; all seine Erschöpfung und Antriebsschwäche schien wie weggeblasen zu sein. Der plötzliche Wandel beruhigte mich nicht, sondern löste ganz im Gegenteil ein befremdliches Gefühl in mir aus, das ich nicht allein auf meine Animosität gegen Rays üblichen Befehlston zurückführen konnte. Ich bedauerte, dass ich in dem unruhigen Licht des Feuerzeugs sein Gesicht nur als tanzende Grimasse erkennen konnte; ich hätte zu gerne gewusst, welchen Ausdruck es zeigte.
»Ja, natürlich«, sagte Marcel und setzte sich in Bewegung. »Kommt.«
Sein Feuerzeug zeigte uns den Weg, in Richtung des schwachen Lichtscheins, der uns anlockte wie die alte Petroleumlampe auf der Veranda meiner Eltern die lästigen Mückenschwärme, die uns regelmäßig im Spätsommer heimgesucht hatten. Dunkelheit, vollkommene Finsternis war etwas Schreckliches und doch wusste ich nicht, ob es gut war, es dem Insekteninstinkt gleich zu tun und keine andere Möglichkeit zuzulassen, als sich nur auf die Quelle größter Helligkeit zuzubewegen. Irgendetwas in mir warnte mich, mich hier länger aufzuhalten, als unbedingt nötig war. Aber die Erinnerung an die allumfassende Dunkelheit in diesem gottverdammten Aufzug war noch zu frisch und schmerzlich, als dass ich daran lange denken wollte.
Wir kamen viel zu langsam voran, so unsicher und zögerlich waren unsere Schritte in diesem Betongang, der nur von der unruhigen Feuerzeugflamme erhellt wurde und damit plötzlich von einem nüchtern geplanten Korridor zu einer Höhle mutierte, wie sie unseren Vorfahren im fernen Europa vor einigen zehntausend Jahren bewohnt haben mochten. Das Gefühl, dass etwas nicht stimmte, verstärkte sich bei mir – und vielleicht auch bei den anderen. Ich brauchte Zeit zum Nachdenken, aber genau die hatte ich nicht. Die flüchtigen Blicke, die ich Kim zuwarf, verstörten mich mehr, als ich wahrhaben wollte. Sie schien mir gleichzeitig so nah und so fern zu sein, eher wie eine Vision in einem verrückten Traum als ein Mensch aus Fleisch und Blut, der sich gleich mir verzweifelt gegen sein Schicksal stemmte. Was, zum Teufel, qualifizierte mich dafür, ihr zu helfen und uns alle aus dieser verrückten Lage zu befreien?