Ich hatte natürlich keine Ahnung, was er meinte, und doch lösten seine Worte in mir höchst unerfreuliche Assoziationen aus und die gleiche kalte Angst überfiel mich, die vor unvorstellbar vielen Jahren nach meinem Kinderherzen gegriffen hatte, um mir in der Dunkelheit jedes Knacken der Holzdielen als etwas unvorstellbar Monströses oder Entsetzliches vorzugaukeln.
Aber jetzt war ich kein Kind mehr und ich hielt eine tödliche, eisenspuckende Waffe in meiner Hand und was oder wer auch immer vor mir stand: Ich konnte ihn oder es besiegen, so wie sich alles besiegen ließ, was es auf unserer Welt gab. »Es wird Zeit, dass du begreifst, dass dein Spiel aus ist, Steel«, sagte ich schroff und versuchte dabei so wenig wie möglich an Kimberley zu denken, die wehrlos im Griff meiner linken Hand auf etwas zu warten schien, an das ich lieber nicht dachte. »Wir sind drei zu eins und was auch immer du vorhast: Wir werden dich abknallen, bevor du auch nur den Finger krumm machen kannst.«
»Ach ja, werdet ihr das?«, fragte Steel höhnisch. »Könnte es nicht sein, dass du damit vollkommen falsch liegst?«
»Ich wüsste nicht, wieso...«
»Ach, wirklich nicht?« Steels Stimme tropfte geradezu vor Hohn. »Dann dreh dich mal um.«
Fast wäre ich seiner Aufforderung gefolgt, hätte mich anstandslos umgedreht und ihn damit im Rücken gehabt. Doch im letzten Moment besann ich mich eines Besseren und beließ es dabei, den Kopf zu schütteln. »O nein«, sagte ich. »Das werde ich sicherlich nicht tun.«
»Was für ein Jammer«, sagte Steel. »Oder was meinst du dazu, Ray?«
»Ich...« Die Stimme meines Bruders hinter mir brach ab, und dann setzte er mit einem weiteren »John, ich...« neu an. Es war gar nicht mehr nötig, dass er weitersprach. Eine unglaubliche Klarheit ergriff mich und eine Gewissheit, nun endlich zu verstehen; ich fühlte mich wie ein Farbenblinder, dem sich plötzlich und unerwartet die Welt schillernder Farben eröffnet und der nun Schattierungen und eine Fülle des Lebens wahrnimmt, die er bislang nur vom Hörensagen kannte.
Doch es war keine freundliche bunte Welt, die sich mir eröffnete. Ganz im Gegenteil. Es war eine graue, düstere Welt, in der es keine Hoffnung gab.
»Passen Sie auf, Loengard!«, rief Marcel.
In diesem Augenblick fiel der Schuss.
Das Geräusch war unverkennbar; zu oft in letzter Zeit hatte ich den Knall von Handfeuerwaffen gehört, um auch nur eine Sekunde daran zu zweifeln. Ich fühlte, wie sich meine Brust zusammenschnürte; Schweiß bildete sich auf meiner Stirn und unter den Armen. Ich erwartete jeden Moment den harten Aufprall eines Treffers, aber er blieb aus.
»Ein schlechter Schuss«, sagte Steel in beiläufigem Tonfall. »Du hättest die kleine Ratte gleich erledigen sollen.«
Langsam wandte ich mich um. Benommen nahm ich wahr, wie sich Kim von meinem Griff löste und irgendwo hinter mir verschwand. Ich starrte fassungslos auf Marcel, der sich das Handgelenk rieb; seine Waffe lag ein paar Fuß von ihm entfernt auf dem Boden und war damit unerreichbar. Offensichtlich hatte Ray ihm das Schnellfeuergewehr aus der Hand geschossen – und das war kein schlechter Schuss, sondern ein ganz hervorragender Schuss gewesen, vorausgesetzt, er hatte genau dieses Ergebnis erreichen wollen.
Ray schien mich kaum wahrzunehmen. Sein Blick war in die Ferne gerichtet und die Waffe, die er lose in der Hand hielt, zielte zu Boden. Der Geruch verbrannten Pulvers mischte sich mit dem unangenehmen Geruch, mit dem die Lüftungsanlage alles verpestete und der in mir Übelkeit hervorrief.
»Ray, was ist los mir dir?«, fragte ich mit klopfendem Herzen. Ich dachte an die beiden Agenten, die er kaltblütig erschossen hatte und an seinen veränderten Gesichtsausdruck, als Marcel und ich ihn in dem Labor entdeckt hatten.
»Was ist los mir dir, Ray?«, äffte mich Steel nach. »Was soll schon mit ihm los sein?« Er lachte meckernd. »Er hat doch seine Sache gut gemacht. Dich und Kim aufgespürt und von diesem Affen Albano hierher bringen lassen. Damit wir endlich vollenden können, was wir vor vielen Jahren begonnen haben.«
»1947, bei Roswell«, vermutete ich. Meine Stimme kam mir seltsam fern und leise vor und eigentlich war es auch gar nicht mehr wichtig, dass ich etwas sagte. Eine Eisenklammer schien mein Herz zusammenzudrücken und der Schmerz war so tief und heftig wie mein Gefühl der Verzweiflung, der fürchterlichen Gewissheit, dass ich im Begriff war, alles zu verlieren, was mir lieb und teuer war.