»Gut, dass du fragst! Aber gewiss kann man ohne Vorstellungen denken! Das Denken hat mit Vorstellungen nicht das mindeste zu tun. Es vollzieht sich nicht in Bildern, sondern in Begriffen und Formeln. Genau dort, wo die Bilder aufhören, fängt die Philosophie an. Dies war es ja, worüber wir einst als Jünglinge so oft gestritten haben: für dich bestand die Welt aus Bildern, für mich aus Begriffen. Ich sagte dir stets, du seiest zum Denker untauglich, und sagte dir auch, dass dies kein Mangel sei, da du dafür ein Herrscher im Gebiet der Bilder bist. Pass auf, ich werde es dir klarmachen: Wärest du, statt damals in die Welt zu laufen, ein Denker geworden, so hättest du Unheil anrichten können. Du wärest nämlich ein Mystiker geworden. Die Mystiker sind, kurz und etwas grob gesagt, jene Denker, welche nicht von den Vorstellungen loskommen können, also überhaupt keine Denker sind Sie sind heimliche Künstler Poeten ohne Verse, Maler ohne Pinsel, Musiker ohne Töne. Es sind höchst begabte und edle Geister unter ihnen, aber sie sind alle ohne Ausnahme unglückliche Menschen. So einer hättest auch du werden können. Statt dessen bist du, Gott sei Dank, ein Künstler geworden und hast dich der Bilderwelt bemächtigt, wo du ein Schöpfer und Herr sein kannst, statt als Denker im Unzulänglichen steckenzubleiben.«
»Ich fürchte«, sagte Goldmund, »es wird mir nie gelingen, mir von deiner Denkwelt, wo man ohne Vorstellungen denkt, einen Begriff zu machen. [114]
«»O doch, sofort wird dir das gelingen. Höre zu: der Denker versucht das Wesen der Welt durch die Logik zu erkennen und darzustellen. Er weiß, dass unser Verstand und sein Werkzeug, die Logik, unvollkommene Instrumente sind – ebenso wie ein kluger Künstler recht wohl weiß, dass sein Pinsel oder Meißel niemals vollkommen das strahlende Wesen eines Engels oder Heiligen wird ausdrücken können. Dennoch versuchen es beide, der Denker wie der Künstler, auf ihre Weise. Sie können und dürfen nicht anders. Denn indem ein Mensch mit den ihm von Natur gegebenen Gaben sich zu verwirklichen sucht, tut er das Höchste und einzig Sinnvolle, was er kann. Darum sagte ich früher so oft zu dir versuche nicht den Denker oder den Asketen nachzuahmen, sondern sei du selbst, suche dich selbst zu verwirklichen!«
»Ich verstehe dich so halb und halb. Aber was heißt das eigentlich sich verwirklichen?«
»Es ist ein philosophischer Begriff, ich kann es nicht anders ausdrücken. Für uns Schüler des Aristoteles und des heiligen Thomas ist der höchste aller Begriffe das vollkommene Sein[115]
. Das vollkommene Sein ist Gott. Alles andere, was ist, ist nur halb, ist teilweise, es ist werdend, ist gemischt, besteht aus Möglichkeiten. Gott aber ist nicht gemischt, er ist eins, er hat keine Möglichkeiten, sondern ist ganz und gar Wirklichkeit. Wir aber sind vergänglich, wir sind werdend, wir sind Möglichkeiten, es gibt für uns keine Vollkommenheit, kein völliges Sein. Dort aber, wo wir von der Potenz zur Tat, von der Möglichkeit zur Verwirklichung schreiten, haben wir teil am wahren Sem, werden dem Vollkommenen und Göttlichen um einen Grad ähnlicher Das heißt sich verwirklichen. Du musst ja diesen Vorgang aus eigener Erfahrung kennen. Du bist ja Künstler und hast manche Figuren gemacht. Wenn dir nun eine solche Figur wirklich geglückt ist, wenn du das Bildnis eines Menschen von Zufälligkeiten befreit und auf eine reine Form gebracht hast – dann hast du, als Künstler, dies Menschenbild verwirklicht.«»Ich habe verstanden.«
»Du siehst mich, Freund Goldmund, an einem Ort und in einem Amte, wo es meiner Natur einigermaßen leicht gemacht wird, sich zu verwirklichen. Du siehst mich in einer Gemeinschaft und Überlieferung leben, die mir entspricht und mir hilft. Ein Kloster ist kein Himmel, es ist voll von Unvollkommenheit, aber dennoch ist ein anständig geführtes Klosterleben für Menschen von meiner Art unendlich viel fördernder als das Weltleben. Ich will nicht vom Sittlichen reden, aber schon rein praktisch verlangt das reine Denken, das zu üben und zu lehren meine Aufgabe ist, einen gewissen Schutz vor der Welt. Ich habe also hier in unserem Hause es viel leichter gehabt, mich zu verwirklichen, als du es gehabt hast. Dass du trotzdem einen Weg gefunden hast und ein Künstler geworden bist, das bewundere ich sehr. Denn du hast es ja so viel schwerer gehabt.«
Goldmund errötete vor Verlegenheit über das Lob und auch vor Freude. Um abzulenken, unterbrach er den Freund: »Das meiste von dem, was du mir sagen wolltest, habe ich verstehen können. Eines aber will mir noch immer nicht in den Kopf das, was du »das reine Denken« nennst, also dein sogenanntes Denken ohne Bilder und das Operieren mit Worten, bei denen man sich nichts vorstellen kann.«
»Nun, an einem Beispiel kannst du es dir klarmachen: Denke doch an die Mathematik! Was für Vorstellungen enthalten die Zahlen? Oder die Zeichen Plus und Minus?