Währenddessen rückte sein Werk voran. Aus der dicken Treppenspindel wuchs eine kleine quellende Welt von Gestaltungen, von Pflanzen, Tieren und Menschen empor, in ihrer Mitte ein Vater Noah[118]
zwischen Weinlaub und Trauben, ein Bilderbuch und Lobpreis der Schöpfung und ihrer Schönheit, frei spielend, aber von einer geheimen Ordnung und Zucht geleitet. Während all der Monate sah niemand das Werk außer Erich, der dabei Handreichung tun durfte und keinen andern Gedanken mehr hatte, als ein Künstler werden zu dürfen. An manchen Tagen durfte auch er die Werkstatt nicht betreten. An andern Tagen nahm Goldmund sich seiner an, unterwies ihn und ließ ihn probieren, froh daran, einen Gläubigen und Schüler zu haben. War das Werk fertig und geglückt, so dachte er ihn von seinem Vater loszubitten und zum ständigen Gehilfen zu erziehen.An den Figuren der Evangelisten arbeitete er an seinen besten Tagen, wenn alles im Einklang war und keine Zweifel ihn beschatteten. Am besten, so schien ihm, gelang ihm die Figur, der er die Züge des Abtes Daniel gab, er liebte sie sehr, von ihrem Gesicht strahlte Unschuld und Güte aus Mit der Figur des Meisters Niklaus war er weniger zufrieden, obwohl Erich diese am meisten bewunderte. Diese Gestalt zeigte Zwiespalt und Trauer, sie schien voll hoher Schöpferpläne und zugleich voll verzweifelten Wissens um die Nichtigkeit des Schöpfertums, voll Trauer um eine verlorene Einheit und Unschuld.
Als der Abt Daniel fertig war, hieß er Erich die Werkstatt säubern. Er verhängte das übrige Werk mit Tüchern und stellte nur diese eine Figur ans Licht. Dann ging er zu Narziss und wartete, da dieser beschäftigt war, geduldig bis zum nächsten Tag. Dann führte er zur Mittagsstunde den Freund in seine Werkstatt und vor die Figur.
Narziss stand und schaute. Er stand und ließ sich Zeit, mit der Aufmerksamkeit und Sorgfalt des Gelehrten betrachtete er die Gestalt. Goldmund stand hinter ihm, schweigend, und suchte den Sturm in seinem Herzen zu bändigen »Oh«, dachte er, »wenn jetzt einer von uns beiden nicht besteht, dann ist es böse. Wenn mein Werk nicht gut genug ist, oder wenn er es nicht verstehen kann, dann hat alle meine Arbeit hier ihren Wert verloren. Ich hätte doch noch warten sollen.«
Die Minuten schienen ihm Stunden, er dachte an die Stunde, da Meister Niklaus seine erste Zeichnung in den Händen gehalten hatte, er presste die heißfeuchten Hände ineinander vor Spannung.
Narziss wendete sich zu ihm um, und alsbald fühlte er sich erlöst. Er sah in des Freundes schmalem Gesicht etwas blühen, das ihm seit den Knabenjahren nicht mehr geblüht hatte ein Lächeln, ein beinah schüchternes Lächeln in diesem Gesicht voll Geist und Willen, ein Lächeln der Liebe und Hingabe, einen Schimmer, als sei die Einsamkeit und der Stolz dieses Gesichts für einen Augenblick durchbrochen und es schiene nichts daraus hervor als ein Herz voll Liebe.
»Goldmund«, sagte Narziss ganz leise, auch jetzt die Worte wägend, »du erwartest nicht von mir, dass ich plötzlich ein Kunstkenner sein soll. Ich bin es nicht, du weißt es Ich kann dir über deine Kunst nichts sagen, was dir nicht lächerlich wäre. Aber lass mich dir das eine sagen: beim ersten Blick habe ich in diesem Evangelisten unsern Abt Daniel erkannt, und nicht nur ihn, sondern auch alles, was er uns damals bedeutet hat die Würde, die Güte, die Einfalt. So, wie der selige Vater Daniel vor unserer jugendlichen Ehrfurcht stand, so steht er hier wieder vor mir, und mit ihm alles, was damals uns heilig war und was uns jene Zeit unvergessich macht. Du hast mich mit diesem Anblick reich beschenkt, mein Freund, du hast mir nicht nur unsern Abt Daniel wiedergegeben, du hast mir, zum erstenmal, dich selbst ganz erschlossen. Ich weiß jetzt, wer du bist. Lass uns nicht mehr darüber reden, ich darf es nicht. O Goldmund, dass uns diese Stunde gekommen ist!«
Es war still in dem großen Raum. Goldmund sah, dass sein Freund im Herzen bewegt war. Eine Verlegenheit engte ihm den Atem »Ja«, sagte er kurz, »ich bin froh darüber Aber es ist nun wohl Zeit, dass du zu Tische gehst.«
Neunzehntes Kapitel