Zwei Jahre arbeitete Goldmund an diesem Werk, und vom zweiten Jahr an bekam er Erich ganz als Schüler zugewiesen. Im Schnitzwerk der Treppe dichtete er ein kleines Paradies, mit Wollust gestaltete er eine holde Wildnis von Bäumen, Laubwerk und Gekräute, mit Vögeln im Geäste, und die Leiber und Kopfe von Tieren tauchten überall dazwischen auf. Inmitten dieses friedlich sprossenden Urgartens stellte er einige Szenen aus dem Leben der Patriarchen dar. Selten erlitt dies fleißige Leben eine Unterbrechung. Selten kam ein Tag, an dem die Arbeit ihm unmöglich war, an dem Unrast oder Überdruss ihm sein Werk entleideten. Dann gab er dem Schüler eine Arbeit, lief oder ritt ins Land hinein, atmete im Wald den mahnenden Duft der Freiheit und des Vagantenlebens, suchte da oder dort eine Bauerntochter auf, ging auch auf die Jagd und lag Stunden im Grünen, in die Gewölbehallen der Waldwipfel starrend und in die wuchernden Wildnisse von Farnkraut und Ginster. Nie blieb er länger weg als einen Tag oder zwei. Dann ging er mit neuer Leidenschaft ans Werk, schnitzte mit Wollust die krautig wuchernden Pflanzen, holte sacht und zärtlich die Menschenköpfe aus dem Holz, schnitt einen Mund mit kräftigem Schnitt, ein Auge, einen faltigen Bart. Außer Erich kannte nur Narziss das Werk, oft kam er herüber, die Werkstatt wurde ihm zuzeiten der liebste Raum im Kloster. Mit Freude und Erstaunen sah er zu. Da kam nun zur Blüte, was sein Freund in seinem unruhigen, trotzigen und kindlichen Herzen getragen hatte, da wuchs und blühte es herauf, eine Schöpfung, eine kleine quellende Welt, ein Spiel vielleicht, aber gewiss kein schlechteres als das Spiel mit Logik, Grammatik und Theologie.
Nachdenklich sagte er einmal »Ich lerne viel von dir, Goldmund. Ich beginne zu verstehen, was Kunst ist. Früher schien mir, sie sei, mit dem Denken und der Wissenschaft verglichen, nicht ganz ernst zu nehmen. Ich dachte etwa so da nun einmal der Mensch eine zweifelhafte Mischung aus Geist und Materie ist, da ihm der Geist die Erkenntnis des Ewigen öffnet, die Materie aber ihn hinabzieht und ans Vergängliche fesselt, sollte er von den Sinnen weg ins Geistige streben, um sein Leben zu erhohen und ihm Sinn zu geben. Ich gab zwar vor, die Kunst hochzuachten, aus Gewohnheit, aber eigentlich war ich hochmutig und sah auf sie herab. Jetzt erst sehe ich, wie viele Wege zur Erkenntnis es gibt und dass der Weg des Geistes nicht der einzige und vielleicht nicht der beste ist. Es ist mein Weg, gewiss, ich werde auf ihm bleiben. Aber ich sehe dich auf dem entgegengesetzten Weg, auf dem Weg durch die Sinne, das Geheimnis des Seins ebenso tief erfassen und viel lebendiger ausdrücken, als die meisten Denker es können.«
»Du begreifst nun«, sagte Goldmund, »dass ich nicht verstehen kann, was Denken ohne Vorstellungen sein soll!«
»Ich habe es längst begriffen. Unser Denken ist ein beständiges Abstrahieren, ein Wegsehen vom Sinnlichen, ein Versuch am Bau einer rein geistigen Welt. Du aber nimmst gerade das Unbeständigste und Sterblichste ans Herz und verkündest den Sinn der Welt gerade im Vergänglichen. Du siehst nicht davon weg, du gibst dich ihm hin, und durch deine Hingabe wird es zum Höchsten, zum Gleichnis des Ewigen. Wir, Denker, suchen uns Gott zu nähern, indem wir die Welt von ihm abziehen. Du näherst dich ihm, indem du seine Schöpfung liebst und nochmals erschaffst. Beides ist Menschenwerk und unzulänglich, aber die Kunst ist unschuldiger.«
»Ich weiß nicht, Narziss. Aber mit dem Leben fertig zu werden, die Verzweiflung abzuwehren, das scheint euch Denkern und Theologen doch besser zu gelingen. Ich beneide dich längst nicht mehr um deine Wissenschaft, mein Freund, aber ich beneide dich um deine Ruhe, um deinen Gleichmut, um deinen Frieden.«
»Du solltest mich nicht beneiden, Goldmund. Es gibt keinen Frieden, so, wie du es meinst. Es gibt den Frieden, gewiss, aber nicht einen, der dauernd in uns wohnt und uns nicht mehr verlässt. Es gibt nur einen Frieden, der immer und immer wieder mit unablässigem Kämpfen erstritten wird und von Tag zu Tag neu erstritten werden muss. Du siehst mich nicht streiten, du kennst weder meine Kämpfe beim Studium, noch kennst du meine Kämpfe in der Betzelle. Es ist gut, dass du sie nicht kennst. Du siehst nur, dass ich weniger als du Launen unterworfen bin, das hältst du für Frieden. Es ist aber Kampf, es ist Kampf und Opfer wie jedes rechte Leben, wie das deine auch.«
»Wir wollen darüber nicht streiten. Auch du siehst meine Kämpfe nicht alle. Und ich weiß nicht, ob du verstehen kannst, wie mir ums Herz ist, wenn ich daran denke, dass nun bald dieses Werk hier fertig sein wird. Es wird dann fortgebracht und aufgestellt, und man sagt mir einige Lobsprüche, und dann kehre ich in eine nackte leere Werkstatt zurück, betrübt über alles das, was in meinem Werk mir nicht gelungen ist und was ihr andern gar nicht sehen könnt, und bin im Innern so leer und beraubt, wie die Werkstatt es ist.«