»Du siehst, ich verstehe dich. Du hast ja auch nicht so sehr unrecht, die Geschichte von Eva und der Schlange[24]
ist ja wahrlich keine müßige Fabel. Und doch hast du nicht recht, Lieber. Du hättest recht, wenn du der Abt Daniel wärest oder dein Taufpatron, der heilige Chrysostomus, wenn du ein Bischof oder Priester oder auch nur ein kleiner simpler Mönch wärest. Der bist du ja aber nicht. Du bist ein Schüler, und wenn du auch den Wunsch hast, für immer im Kloster zu bleiben, oder wenn dein Vater diesen Wunsch für dich hat, so hast du doch noch kein Gelübde abgelegt[25], noch keine Weihe erhalten[26]. Wenn du heut oder morgen durch ein hübsches Mädchen verführt würdest und der Versuchung erlägest, so hättest du keinen Schwur gebrochen, kein Gelübde verletzt.«»Kein geschriebenes Gelübde!« rief Goldmund in großer Erregung. »Wohl aber ein ungeschriebenes, das heiligste, das ich in mir trage. Kannst du denn nicht sehen, dass, was für viele andere gelten mag, für mich nicht gilt? Hast denn nicht auch du selber noch keine Weihe, hast noch kein Gelübde getan, und doch würdest du dir niemals erlauben, ein Weib anzurühren! Oder täusche ich mich da? Bist du gar nicht so? Bist du gar nicht der, für den ich dich hielt? Hast nicht auch du den Schwur, den du mit Worten und vor den Oberen noch nicht geleistet hast, doch längst im Herzen geleistet und fühlst dich durch ihn für immer verpflichtet? Bist du denn nicht meinesgleichen?«
»Nein, Goldmund, ich bin nicht deinesgleichen, nicht so wie du glaubst. Wohl halte auch ich ein ungesprochenes Gelübde, darin hast du recht. Aber deinesgleichen bin ich keineswegs. Ich sage dir heut ein Wort, an das wirst du einmal denken. Ich sage dir: unsere Freundschaft hat überhaupt kein anderes Ziel und keinen anderen Sinn, als dir zu zeigen, wie vollkommen ungleich du mir bist!«
Betroffen blieb Goldmund stehen; Narziss hatte mit dem Blick und Ton gesprochen, dem nicht zu widerstehen war. Er schwieg. Aber warum sagte Narziss solche Worte? Warum sollte Narzissens ungesprochenes Gelübde heiliger sein als seines? Nahm er ihn überhaupt nicht ernst, sah er bloß ein Kind in ihm? Die Verwirrungen und Traurigkeiten dieser sonderbaren Freundschaft begannen von neuem.
Narziss war nicht mehr im Zweifel über die Natur von Goldmunds Geheimnis. Es war Eva, es war die Urmutter, die dahinterstand. Wie aber war es möglich, dass in einem so schönen, so gesunden, so blühenden Jüngling das erwachende Geschlecht auf so erbitterte Feindschaft stieß? Es musste ein Dämon am Werke gewesen sein, ein heimlicher Feind, dem es gelungen war, diesen herrlichen Menschen in sich zu spalten und mit seinen Urtrieben zu entzweien. Gut, der Dämon musste gefunden, musste beschworen und sichtbar gemacht werden, dann war er zu besiegen.
Inzwischen war Goldmund von den Kameraden mehr und mehr gemieden und im Stich gelassen worden[27]
, vielmehr sie fühlten sich von ihm im Stich gelassen und gewissermaßen verraten. Niemand sah seine Freundschaft mit Narziss gerne. Die Hämischen brachten sie als naturwidrig in Verruf[28], namentlich jene, welche selbst in einen der beiden Jünglinge verliebt gewesen waren. Aber auch die andern, denen es einleuchtete, dass hier kein Laster zu beargwöhnen sei, schüttelten die Köpfe. Niemand gönnte diese beiden Menschen einander; durch ihren Zusammenschluss hatten sie, so schien es, sich hochmütig als Aristokraten von den andern abgesondert, die ihnen nicht gut genug waren; das war nicht kollegial, war nicht klösterlich, war nicht christlich.