Betroffen hielt Goldmund den Kopf gesenkt, sein Gesicht war traurig geworden. Endlich sagte er: »Ist es darum, dass du meine Gedanken so oft nicht ernst nimmst?«
Narziss zauderte ein wenig mit der Antwort. Dann sagte er mit heller, harter Stimme: »Es ist darum. Du musst dich daran gewöhnen, lieber Goldmund, dass ich nur dich selbst ernst nehme. Glaube mir, ich nehme jeden Ton deiner Stimme, jede deiner Gebärden, jedes Lächeln von dir ernst. Aber deine Gedanken, die nehme ich weniger ernst. Ich nehme an dir das ernst, was ich als wesentlich und notwendig erfinde. Warum willst du denn gerade deinen Gedanken besondere Beachtung zugewendet sehen, da du so viele andere Gaben hast?«
Goldmund lächelte bitter: »Ich sagte es ja, du hast mich immer bloß für ein Kind gehalten!«
Narziss blieb fest. »Einen Teil deiner Gedanken halte ich für Kindergedanken. Erinnere dich, wir sprachen vorher davon, dass ein kluges Kind durchaus nicht dümmer zu sein brauche als ein Gelehrter. Wenn aber das Kind über Wissenschaft mitreden will, wird der Gelehrte es eben nicht ernst nehmen.«
Heftig rief Goldmund: »Auch wenn wir nicht über Wissenschaft reden, belächelst du mich! Du tust zum Beispiel immer so, als sei meine ganze Frömmigkeit, meine Bemühungen um Fortschritte im Lernen, mein Wunsch nach dem Mönchtum bloß Kinderei!«
Ernst blickte Narziss ihn an: »Ich nehme dich ernst, wenn du Goldmund bist. Du bist aber nicht immer Goldmund. Ich wünsche mir nichts anderes, als dass du ganz und gar Goldmund würdest. Du bist kein Gelehrter, du bist kein Mönch – einen Gelehrten oder einen Mönch kann man aus geringerem Holz machen. Du glaubst, du seiest mir zu wenig gelehrt, zu wenig Logiker, oder zu wenig fromm. O nein, aber du bist mir zu wenig du selbst.«
Hatte sich auch Goldmund nach diesem Gespräch betroffen und sogar verletzt zurückgezogen, schon nach wenigen Tagen zeigte er dennoch selbst Verlangen nach seiner Fortsetzung. Diesmal nun gelang es Narziss, ihm ein Bild von den Unterschieden ihrer Naturen zu geben, das er besser annehmen konnte.
Narziss hatte sich warm geredet[36]
, er fühlte, dass Goldmund heute seine Worte offener und williger in sich einließe, dass er Macht über ihn habe. Er ließ sich durch den Erfolg verführen, mehr zu sagen, als er beabsichtigt hatte, er ließ sich von seinen eigenen Worten hinreißen.»Schau«, sagte er, »es gibt nur einen einzigen Punkt, in dem ich dir überlegen bin: ich bin wach, während du nur halbwach bist und zuweilen völlig schläfst. Wach nenne ich den, der mit dem Verstand und Bewusstsein sich selbst, seine innersten unvernünftigen Kräfte, Triebe und Schwächen kennt und mit ihnen zu rechnen weiß. Dass du das lernst, das ist der Sinn, den die Begegnung mit mir für dich haben kann. Bei dir, Goldmund, sind Geist und Natur, Bewusstsein und Traumwelt sehr weit auseinander. Du hast deine Kindheit vergessen, aus den Tiefen deiner Seele wirbt sie um dich. Sie wird dich so lange leiden machen, bis du sie erhörst. – Genug davon! Im Wachsein, wie gesagt, bin ich stärker als du, hier bin ich dir überlegen und kann dir darum nützen. In allem andern, Lieber, bist du ja mir überlegen – vielmehr du wirst es sein, sobald du dich selbst gefunden hast.«
Goldmund hatte staunend zugehört, aber bei dem Wort »Du hast deine Kindheit vergessen« zuckte er auf wie von einem Pfeil getroffen[37]
, ohne dass Narziss es beachtete, der nach seiner Art während des Sprechens die Augen oft lange geschlossen hielt oder vor sich hinstarrte, als fände er die Worte so besser. Er sah nicht, wie Goldmunds Gesicht plötzlich zuckte und zu verwelken begann.»Überlegen – ich dir!« stammelte Goldmund, nur um etwas zu sagen, er war wie von einer Starre befallen.
»Gewiss«, sprach Narziss weiter. »Die Naturen von deiner Art, die mit den starken und zarten Sinnen, die Beseelten, die Träumer, Dichter, Liebenden, sind uns andern, uns Geistmenschen, beinahe immer überlegen. Eure Herkunft ist eine mütterliche. Ihr lebet im Vollen, euch ist die Kraft der Liebe und des Erlebenkönnens gegeben. Wir Geistigen, obwohl wir euch andere häufig zu leiten und zu regieren scheinen, leben nicht im Vollen, wir leben in der Dürre. Euch gehört die Fülle des Lebens, euch der Saft der Früchte, euch der Garten der Liebe, das schöne Land der Kunst. Eure Heimat ist die Erde, unsere die Idee. Eure Gefahr ist das Ertrinken in der Sinnenwelt, unsere das Ersticken im luftleeren Raum. Du bist Künstler, ich bin Denker. Du schläfst an der Brust der Mutter, ich wache in der Wüste. Mir scheint die Sonne, dir scheinen Mond und Sterne, deine Träume sind von Mädchen, meine von Knaben…«