Er wurde entlassen, ohne Rüge, doch mit dem vorläufigen Verbot, den Kranken aufzusuchen.
Inzwischen hatte Pater Anselm den Ohnmächtigen auf ein Bett legen lassen und saß bei ihm. Ihn durch gewaltsame Mittel ins Bewusstsein zurückzuschrecken, schien ihm nicht geraten. Der Junge sah allzu schlecht aus. Wohlwollend blickte der alte Mann aus dem faltigen guten Gesicht auf den Jüngling. Vorläufig untersuchte er den Puls und horchte am Herzen. Gewiss, dachte er, hatte der Bursche irgend etwas Unmögliches gegessen, einen Haufen Sauerklee oder sonst etwas Dummes, man kannte das ja. Die Zunge konnte er nicht sehen. Er mochte Goldmund gern, aber seinen Freund, diesen frühreifen allzu jungen Lehrer, konnte er nicht leiden. Da hatte man es nun. Sicher war Narziss an dieser dummen Geschichte mitschuldig. Was brauchte auch so ein frischer, helläugiger Junge, so ein liebes Naturkind sich ausgerechnet mit diesem hochmütigen Gelehrten einzulassen, mit diesem eitlen Grammatiker, dem sein Griechisch wichtiger war als alles Lebendige auf der Welt!
Als nach langer Zeit die Tür sich öffnete und der Abt hereinkam, saß der Pater noch immer und starrte in das Gesicht des Ohnmächtigen. Was war das für ein liebes junges, argloses Gesicht, und da saß man nun daneben, sollte helfen und würde es wahrscheinlich nicht können. Gewss, die Ursache konnte eine Kolik sein, er würde Glühwein verordnen, vielleicht Rhabarber. Aber je länger er in das grünbleiche, verzogene Gesicht blickte, desto mehr neigte sich sein Verdacht nach einer anderen Seite, einer bedenklicheren. Pater Anselm hatte Erfahrung. Mehrmals im Laufe seines langen Lebens hatte er Besessene gesehen. Er zögerte damit, den Verdacht auch nur vor sich selbst auszusprechen. Er würde warten und beobachten. Aber, dachte er grimmig, wenn dieser arme Junge wirklich verhext worden war, so würde man den Schuldigen wohl nicht weit zu suchen haben, und es sollte ihm nicht gut gehen.
Der Abt trat näher, sah sich den Kranken an, hob ihm sachte ein Augenlid etwas in die Höhe.
»Kann man ihn erwecken?« fragte er.
»Ich möchte noch warten. Das Herz ist gesund. Wir dürfen niemand zu ihm lassen.«
»Ist Gefahr?«
»Ich glaube nicht. Nirgends Verletzungen, keine Spuren von Schlag oder Sturz. Er ist ohnmächtig, vielleicht war es eine Kolik. Bei sehr starken Schmerzen verliert man das Bewusstsein. Wenn es eine Vergiftung wäre, käme Fieber. Nein, er wird wieder aufwachen und am Leben bleiben.«
»Kann es nicht vom Gemüt her gekommen sein?«
»Ich will es nicht verneinen. Weiß man denn nichts? Hat er vielleicht einen starken Schrecken gehabt? Eine Todesnachricht? Einen heftigen Streit, eine Beleidigung? Dann wäre alles erklärt.«
»Wir wissen es nicht. Traget Sorge, dass niemand zu ihm gelassen wird. Ich bitte Euch, bei ihm zu bleiben, bis er erwacht. Sollte es schlimm werden, so rufet mich, auch wenn es in der Nacht wäre.«
Vor dem Weggehen beugte der Greis sich nochmals über den Kranken; er dachte an dessen Vater und dachte an den Tag, an dem dieser hübsche heitere Blondkopf ihm zugebracht worden war, und wie sie alle ihn gleich gern gehabt hatten. Auch er hatte ihn gern gesehen. Aber darin hatte Narziss wirklich recht: in nichts erinnerte dieser Knabe an seinen Vater! Ach, wieviel Sorgen überall, wie unzulänglich war all unser Tun! Hatte er nicht vielleicht an diesem armen Knaben etwas versäumt? Hatte er den richtigen Beichtvater gehabt? War es in Ordnung, dass niemand im Hause über diesen Schüler so gut Bescheid wusste wie Narziss? Konnte denn der ihm helfen, der noch im Noviziat stand, der weder Bruder war noch die Weihen hatte und dessen Gedanken und Anschauungen alle etwas so unangenehm Überlegenes, ja fast Feindseliges hatten? Weiß Gott, ob nicht auch Narziss seit langem falsch behandelt worden war? Weiß Gott, ob er nicht hinter der Maske des Gehorsams Schlimmes verbarg, vielleicht ein Heide war? Und alles, was aus diesen beiden jungen Menschen einst werden würde, dafür war er mitverantwortlich.
Als Goldmund zu sich kam, war es dunkel. Er fühlte seinen Kopf leer und schwindlig. Er fühlte sich in einem Bett liegen, er wusste nicht, wo er war, er dachte auch nicht darüber nach, es war ihm gleichgültig. Aber wo war er gewesen? Wo kam er her, aus welcher Fremde von Erlebnissen? Er war irgendwo gewesen, sehr weit fort, er hatte etwas gesehen, etwas Außerordentliches, etwas Herrliches, etwas Furchtbares auch und Unvergessliches – und doch hatte er es vergessen. Wo war es? Was war da vor ihm aufgetaucht, so groß, so schmerzlich, so selig, und war wieder hingeschwunden?
Tief horchte er in sich hinein, dorthin, wo heute etwas aufgebrochen, etwas geschehen war – was war es gewesen? Wüste Bilderknäuel wälzten sich herauf, er sah Hundeköpfe, drei Hundeköpfe, und er roch den Duft von Rosen. O wie weh war ihm gewesen! Er schloss die Augen. O wie furchtbar weh war ihm gewesen! Er schlief wieder ein.