Читаем Narziss und Goldmund / Нарцисс и Гольдмунд. Книга для чтения на немецком языке полностью

Goldmunds Begierde nach den Wissenschaften war sehr viel geringer geworden. Auch seine Disputierlust in den Freundesgesprächen war vergangen, beschämt erinnerte er sich an manche ihrer einstigen Unterhaltungen. Inzwischen war bei Narziss in jüngster Zeit, sei es mit der Vollendung seines Noviziats oder infolge der Erlebnisse mit Goldmund, ein Bedürfnis nach Zurückgezogenheit, Askese und geistlichen Übungen erwacht, eine Neigung zu Fasten und langen Gebeten, häufigen Beichten, freiwilligen Bußübungen, und diese Neigung vermochte Goldmund zu verstehen, ja beinahe zu teilen. Seit seiner Genesung war sein Instinkt sehr geschärft; wusste er auch noch nicht das geringste über seine künftigen Ziele, so spürte er doch mit starker und oft beängstigender Deutlichkeit, dass sein Schicksal sich vorbereite, dass eine gewisse Schonzeit der Unschuld und Ruhe[43] nun vorüber und alles in ihm gespannt und bereit sei. Oft war die Ahnung beseligend, hielt ihn halbe Nächte wach wie eine süße Verliebtheit; oft auch war sie dunkel und tief beklemmend. Die Mutter war wieder zu ihm gekommen, die lang Verlorene; das war ein hohes Glück. Aber wohin führte ihr lockender Ruf? Ins Ungewisse, in Verstrickung, in Not, vielleicht in den Tod. Ins Stille, Sanfte, Gesicherte, in Mönchszelle und lebenslängliche Klostergemeinschaft führte sie nicht, ihr Ruf hatte nichts gemein mit jenen väterlichen Geboten, die er so lange mit seinen eigenen Wünschen verwechselt hatte. Aus diesem Gefühl, das oft stark, bang und brennend war wie ein heftiges Körpergefühl, nährte sich Goldmunds Frömmigkeit. Im Wiederholen langer Gebete an die heilige Mutter Gottes ließ er den Überschwall des Gefühls, das ihn zur eigenen Mutter zog, von sich strömen. Häufig aber endeten seine Gebete doch wieder in jenen merkwürdigen, herrlichen Träumen, die er jetzt so oft erlebte: Träumen bei Tage, bei halbwachen Sinnen, Träumen von ihr, an denen alle Sinne teilhatten. Da umduftete ihn die Mutterwelt, blickte dunkel aus rätselhaften Liebesaugen, rauschte tief wie Meer und Paradies, lallte kosend sinnlose, vielmehr mit Sinn überfüllte Koselaute, schmeckte nach Süßem und nach Salzigem, streifte mit seidigem Haar über dürstende Lippen und Augen. Nicht nur alles Holde war in der Mutter, nicht nur süßer blauer Liebesblick, holdes glückverheißendes Lächeln, kosende Tröstung; in ihr war, irgendwo unter anmutigen Hüllen, auch alles Furchtbare und Dunkle, alle Gier, alle Angst, alle Sünde, aller Jammer, alle Geburt, alles Sterbenmüssen.

Tief sank der Jüngling in diese Träume, in diese vielfädigen Gespinste beseelter Sinne. In ihnen stand nicht nur geliebte Vergangenheit wieder bezaubernd auf: Kindheit und Mutterliebe, strahlend goldener Lebensmorgen; es schwang in ihnen auch drohende, versprechende, lockende und gefährliche Zukunft. Zuweilen erschienen diese Träume, in denen Mutter, Madonna und Geliebte eins waren, ihm nachher wie entsetzliche Verbrechen und Gotteslästerungen, wie niemals mehr zu sühnende Todsünden; zu andern Malen fand er in ihnen alle Erlösung, alle Harmonie. Voll von Geheimnissen starrte das Leben ihn an, eine finstere unergründliche Welt, ein starrer stachliger Wald voll märchenhafter Gefahren – aber es waren Geheimnisse der Mutter, sie kamen von ihr, sie führten zu ihr, sie waren der kleine dunkle Kreis, der kleine drohende Abgrund in ihrem lichten Auge.

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