Wieder erwachte er, und eben noch im Entschwinden der eilig weggleitenden Traumwelt sah er es, fand das Bild wieder und zuckte wie in schmerzlicher Wollust zusammen. Er sah, er war sehend geworden. Er sah Sie. Er sah die Große, Strahlende, mit dem voll blühenden Munde, mit den leuchtenden Haaren. Er sah seine Mutter. Zugleich meinte er eine Stimme zu hören: »Du hast deine Kindheit vergessen.« Wessen Stimme war doch dies? Er horchte, er sann und fand. Es war Narziss. Narziss? Und in einem Augenblick, mit einem jähen Ruck war alles wieder da: er erinnerte sich, er war wissend. O Mutter, Mutter! Berge von Schutt, Meere von Vergessenheit waren weg, waren verschwunden; aus königlichen, hellblauen Augen blickte die Verlorene ihn wieder an, die unsäglich Geliebte.
Pater Anselm, der im Lehnstuhl neben dem Bett eingeschlummert war, erwachte. Er hörte den Kranken sich bewegen, hörte ihn atmen. Vorsichtig erhob er sich.
»Ist jemand da?« fragte Goldmund.
»Ich bin es, sei ohne Sorge. Ich mache Licht.«
Er brachte die Ampel zum Brennen, der Schein fiel über sein faltiges wohlwollendes Gesicht.
»Bin ich denn krank?« fragte der Jüngling.
»Du bist ohnmächtig gewesen, mein Söhnchen. Gib mir die Hand, wir wollen nach dem Puls sehen. Wie fühlst du dich?«
»Gut. Ich danke Euch, Pater Anselm, Ihr seid sehr gütig. Es fehlt mir nichts mehr, ich bin nur müde.«
»Natürlich bist du müde. Bald wirst du wieder schlafen. Nimm vorher einen Schluck heißen Wein, er steht bereit. Wir wollen einen Becher miteinander leeren, mein Junge, auf gute Kameradschaft.«
Sorglich hatte er ein Krüglein Glühwein bereitgehalten und in ein Gefäß mit heißem Wasser gestellt.
»Da haben wir also beide eine ganze Weile geschlafen«, lachte der Arzt. »Ein feiner Krankenwärter, wirst du denken, der sich nicht munter halten kann. Na ja, wir sind Menschen. Jetzt trinken wir ein wenig von diesem Zaubertrank, mein Kleiner, nichts Hübscheres als so eine kleine heimliche Zecherei in der Nacht. Also Prosit!«
Goldmund lachte, stieß an und kostete. Der warme Wein war mit Zimmet und Nelken gewürzt und mit Zucker gesüßt, das hatte er noch nie getrunken. Es fiel ihm ein, dass er schon einmal krank gewesen sei, da hatte Narziss sich seiner angenommen. Diesmal war es Pater Anselm, der lieb mit ihm war. Es gefiel ihm sehr, es war höchst angenehm und wunderlich, beim Lämpchenschein dazuliegen und mitten in der Nacht mit dem alten Pater einen Becher süßen warmen Wein zu trinken.
»Hast du Bauchweh?« fragte der Alte.
»Nein.«
»Ja, ich dachte, du müsstest Kolik haben, Goldmund. Also damit ist es nichts. Zeig deine Zunge. Na, es ist gut, euer alter Anselm hat wieder einmal nichts gewusst. Du bleibst morgen hübsch liegen, ich komme dann und untersuche dich. Und mit dem Wein bist du schon fertig? Recht so, es möge dir wohl bekommen. Lass mich sehen, ob noch etwas da ist. Zu einem halben Becher für jeden von uns reicht es noch, wenn wir redlich teilen. – Du hast uns schön erschreckt, Goldmund! Liegst da im Kreuzgang wie eine Kinderleiche. Hast du wirklich kein Bauchweh?«
Sie lachten und teilten redlich den Rest des Krankenweins, der Pater machte seine Späße, und Goldmund blickte ihn dankbar und belustigt aus den wieder hell gewordenen Augen an. Dann ging der Alte fort, um sich zu Bett zu legen.
Goldmund lag noch eine Weile wach, langsam traten die Bilder wieder aus seinem Innern hervor, flammten die Worte seines Freundes wieder auf, und nochmals erschien in seiner Seele die blonde strahlende Frau, die Mutter; wie Föhnwind ging ihr Bild durch ihn hin, wie eine Wolke von Leben, von Wärme, von Zärtlichkeit und inniger Mahnung. O Mutter! O wie war es möglich gewesen, dass er sie hatte vergessen können!
Fünftes Kapitel