Oben auf dem Turm
»Und so …?«, sagte ich, obwohl ich mir nicht sicher war, ob ich die Antwort hören wollte.
»Und so habe ich Duff aufgetragen, Mr. Lyon eine Nachricht zu überbringen. Wenn alles funktioniert, treffen wir uns in einer Woche an Wylies Landeplatz mit Mr. Bonnet.«
Ich schluckte und wurde von einer Welle der Benommenheit überrollt, die nichts mit der Höhe zu tun hatte. Ich schloss die Augen und klammerte mich an das Holzgeländer, das die kleine Plattform umgab, auf der wir standen. Es wehte ein starker Wind, und die Bretter des Turms ächzten und stöhnten und fühlten sich beängstigend instabil an.
Ich hörte, wie Jamie sein Gewicht verlagerte und sich Roger zuwandte.
»Er ist ein Mensch, aye?«, sagte er leise. »Kein Ungeheuer.«
War er das? Es war ein Ungeheuer, dachte ich, das Brianna heimsuchte, und vielleicht auch ihren Vater. Würde seine Ermordung ihn reduzieren, ihn wieder zu einem bloßen Menschen machen?
»Ich weiß.« Rogers Stimme wankte nicht, klang aber auch nicht besonders überzeugt.
Ich öffnete die Augen und sah den Ozean vor mir in einer Nebelbank verschwinden. Er war riesig und wunderschön – und leer. Es war gut möglich, dachte ich, dass man über den Rand der Welt fiel.
»Du bist doch mit dem guten Stephen gesegelt, aye? Wie lange, zwei Monate, drei?«
»Fast drei«, antwortete Roger.
Jamie nickte, ohne den Kopf zu wenden. Er blickte auf die rollende See hinaus, und der Wind riss ihm vereinzelte Haarsträhnen aus dem Zopf, die wie bleiche Flammen im Licht des Tages tanzten.
»Dann hast du den Mann doch ganz gut kennen gelernt.«
Roger stützte sein Gewicht auf das Geländer. Es war zwar stabil, aber feucht und klebrig, weil der Schaum von den Felsen unter uns bis hier heraufgespritzt war.
»Ganz gut«, wiederholte er. »Aye. Wieso?«
Da wandte sich Jamie um und sah ihm ins Gesicht. Seine Augen waren zum Schutz vor dem Wind zusammengekniffen, aber zielsicher und glänzend wie Rasierklingen.
»Weil du dann doch wissen musst, dass er wirklich ein Mensch ist – nicht mehr.«
»Was sollte er denn sonst sein?« Roger spürte, wie gereizt seine Stimme klang.
Jamie wandte sich wieder der See zu und hielt sich die Hand über die Augen, um in die sinkende Sonne zu blinzeln.
»Ein Ungeheuer«, sagte er leise. »Ein Untermensch – oder auch ein Übermensch.«
Roger öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, stellte jedoch fest, dass er es nicht konnte. Denn es war ein Ungeheuer, das sein eigenes Herz mit Furcht verfinsterte.
»Wie haben die Seeleute ihn denn gesehen?« Claires Stimme erklang hinter Jamie; sie lehnte sich über das Geländer, um an ihm vorbeizublicken, und der Wind packte ihr Haar und zerzauste es zu einer wehenden Wolke, so stürmisch wie der offene Himmel.
»Auf der
»War er grausam?«, fragte Claire. Eine schwache Falte erschien zwischen ihren Augenbrauen.
»Jeder Kapitän ist manchmal grausam, Sassenach«, sagte Jamie mit einem leisen Unterton der Ungeduld. »Das lässt sich gar nicht vermeiden.«
Sie blickte zu ihm auf, und Roger sah, wie sich ihr Gesichtsausdruck änderte, als die Erinnerung ihren Mund sanfter werden ließ und ein ironischer Gedanke ihren Mundwinkel verzog. Sie legte Jamie eine Hand auf den Arm, und er beobachtete, wie ihre Fingerknöchel weiß wurden, als sie zudrückte.
»Du hast auch dein Leben lang getan, was du musstest«, sagte sie so leise, dass Roger sie kaum hören konnte. Ganz gleich; die Worte waren eindeutig nicht für seine Ohren bestimmt. Dann hob sie die Stimme ein wenig. »Es gibt einen Unterschied zwischen Grausamkeit und Notwendigkeit.«
»Aye«, sagte Jamie halb gemurmelt. »Und es liegt nur ein schmaler Grat zwischen einem Ungeheuer und einem Helden.«
Kapitel 102
Die Schlacht an Wylies Landeplatz
Die Meerenge war ruhig und flach, die schwach aufgeraute Wasseroberfläche voll winziger Wellen, die der Wind vor sich hertrieb. Und das war auch verdammt gut so, dachte Roger mit einem Blick auf seinen Schwiegervater. Immerhin hatte Jamie die Augen geöffnet und hielt sie mit verzweifelter Intensität auf das Ufer gerichtet, als könnte ihm der bloße Anblick festen Bodens, so unerreichbar er auch sein mochte, irgendwie Erleichterung spenden. Auf seiner Oberlippe glänzten Schweißtropfen, und sein Gesicht hatte dieselbe Perlmuttfarbe wie der Morgenhimmel, doch noch hatte er sich nicht übergeben.