Ihre ruhigen Schritte hatten sie zum Heck geführt. Dort blieb Bonnet stehen, legte die Hände auf die Reling und rauchte schweigend. Dann nahm er die Zigarre aus dem Mund.
»Sie zogen den Idioten zu der Wand, die im Bau war, und setzten ihn an ihren Fuß. Ich erinnere mich noch an sein dummes Gesicht«, sagte er leise. »Er trank, und er lachte mit ihnen, und sein Mund stand offen – schlaff und feucht wie die Fotze einer alten Hure. Im nächsten Moment kam der Stein von der Mauerkrone geflogen und zerschmetterte ihm den Kopf.«
Feuchte Tropfen hatten sich an den Haarstoppeln in Rogers Nacken gesammelt; er spürte, wie sie einzeln herunterrannen und ihm kalt die Wirbelsäule hinunterliefen.
»Sie haben mich aufs Gesicht gedreht und mir einen Schlag verpasst«, fuhr Bonnet ungerührt fort. »Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf dem Boden eines Fischerbootes. Der Fischer hat mich in der Nähe von Peterhead ans Ufer gesetzt und gesagt, er würde mir raten, mir wieder ein Schiff zu suchen – er könnte mir ansehen, hat er gesagt, dass ich nicht fürs Land gemacht war.«
Er hielt die Zigarre hoch und klopfte sanft mit dem Finger darauf, um die Asche zu lösen.
»Übrigens«, sagte er, »haben sie mir meinen Lohn gegeben; als ich nachsah, war der Schilling in meiner Tasche. Ah, sie waren schon ehrliche Männer.«
Roger lehnte sich an die Reling und umklammerte das Holz, das einzig Stabile in einer Welt, die weich und nebulös geworden war.
»Und seid Ihr wieder an Land gegangen?«, fragte er, und seine eigene Stimme klang übernatürlich ruhig, als gehörte sie jemand anderem.
»Ihr meint, habe ich sie gefunden?« Bonnet drehte sich um und lehnte sich an die Reling, so dass er Roger halb zugewandt war. »Oh, ja. Jahre später. Einen nach dem anderen. Aber ich habe sie alle gefunden.« Er öffnete die Hand, in der er die Münze hielt, hielt sie nachdenklich vor sich und drehte sie hin und her, so dass das Silber im Licht der Laterne schimmerte.
»Kopf, und man lebt, Zahl, und man stirbt. Eine gerechte Chance, meint Ihr nicht, MacKenzie?«
»Für sie?«
»Für Euch.«
Die leise, irische Stimme war so teilnahmslos, als stellte sie Beobachtungen über das Wetter an.
Wie im Traum spürte Roger, wie sich das Gewicht des Schillings erneut in seine Hände senkte. Er hörte, wie das Wasser an der Bordwand saugte und zischte, hörte die Wale blasen – und hörte die Saug- und Zischgeräusche, wenn Bonnet an seiner Zigarre zog.
»Eine gerechte Chance«, sagte Bonnet. »Einmal habt Ihr Glück gehabt, MacKenzie. Mal sehen, ob Danu Euch noch einmal beisteht – oder ob es diesmal der Seelenfresser ist?«
Der Nebel hatte sich auf das Deck gesenkt. Es war nichts zu sehen außer Bonnets Zigarre, ein brennender Zyklop im Dunst. Der Mann hätte wirklich ein Teufel sein können, ein Auge vor dem Elend der Menschen verschlossen, ein Auge offen für die Dunkelheit. Und Roger stand ihm ausgeliefert da, und sein Schicksal leuchtete silbern in seiner Hand.
»Es ist mein Leben; ich darf es mir aussuchen«, sagte er und war überrascht, wie ruhig und stetig seine Stimme klang. »Zahl – Zahl ist für mich.« Er warf die Münze, fing sie auf, schlug die eine Hand fest auf den Rücken der anderen und umschloss die Münze und ihr unbekanntes Urteil.
Er schloss die Augen und dachte ganz kurz an Brianna.
Ein warmer Atemhauch lief über seine Haut, und dann spürte er eine kühle Stelle auf seinem Handrücken, als die Münze entfernt wurde, doch er bewegte sich nicht, öffnete die Augen nicht.
Es dauerte eine ganze Zeit, bis er begriff, dass er allein war.
Neunter Teil
Kapitel 40
Das Jungfrauenopfer
Dies war der dritte Anfall von Lizzies mysteriöser Krankheit. Nach dem ersten schlimmen Fieberanfall hatte es so ausgesehen, als erholte sie sich, und nachdem sie einen Tag lang Kräfte gesammelt hatte, hatte sie darauf bestanden, reisefähig zu sein. Doch sie waren von Charleston nur einen Tagesritt weit nach Norden gelangt, als das Fieber erneut zuschlug.
Brianna hatte den Pferden die Vorderbeine gefesselt und hastig ein Lager an einem kleinen Bach aufgeschlagen, dann war sie während der ganzen Nacht ein ums andere Mal zum Wasser gegangen und im Dunkeln ein schlammiges Ufer hinauf- und hinuntergeklettert, um in einem kleinen Topf Wasser zu holen, das sie Lizzie in die Kehle und über den dampfenden Körper tropfen ließ. Sie hatte keine Angst vor dem dunklen Wald oder vor wilden Tieren, doch der Gedanke, dass Lizzie in der Wildnis sterben könnte, meilenweit von jeder Hilfe entfernt, entsetzte sie so sehr, dass sie sich vornahm, nach Charleston zurückzukehren, sobald Lizzie wieder auf einem Pferd sitzen konnte.