»Duncan!«, rief Jamie, und ein hochgewachsener, dünner Mann drehte sich um und hob als Erwiderung seine Hand. Er wand sich durch die Menge, wobei er sich die Leute vom Leib hielt, indem er seinen Arm in weitem Bogen schwang.
»Mac Dubh«, sagte er und begrüßte Jamie mit einem Kopfnicken. »Mrs. Claire.« Sein langes, schmales Gesicht war von Traurigkeit durchfurcht. Auch er hatte als Gefangener in Ardsmuir gesessen, zusammen mit Hayes und Jamie. Nur die Tatsache, dass er seinen Arm durch eine Blutvergiftung verloren hatte, hatte verhindert, dass er mit den anderen deportiert wurde. Da man ihn nicht als Arbeiter verkaufen konnte, hatte man ihn begnadigt und dem Hunger überlassen – bis Jamie ihn gefunden hatte.
»Möge der arme Gavin in Frieden ruhen«, sagte Duncan und schüttelte leidvoll den Kopf.
Jamie murmelte eine Antwort auf Gälisch und bekreuzigte sich. Dann richtete er sich auf und schüttelte mit sichtbarer Anstrengung die bedrückende Atmosphäre ab.
»Aye, gut. Ich muss zu den Docks gehen und Ians Überfahrt arrangieren, und dann können wir uns um Gavins Begräbnis kümmern. Aber erst muss ich den Jungen unterbringen.«
Wir kämpften uns durch das Gewühl zu den Docks voran, zwängten uns zwischen Grüppchen aufgeregter Klatschmäuler hindurch und wichen den Fuhrwerken und Handkarren aus, die mit dem behäbigen Gleichmut von Handel und Wandel durchs Gedränge fuhren.
Eine Reihe rotberockter Soldaten kam im Laufschritt vom anderen Ende des Kais und zerteilte die Menge, wie wenn man Essig auf Mayonnaise träufelt. Die Sonne glänzte heiß auf ihren Bayonettspitzen, und der Rhythmus ihres Trotts klang im Lärmen der Menge wie eine gedämpfte Trommel. Sogar die rumpelnden Gespanne und Karren hielten abrupt an, um sie vorbeizulassen.
»Pass auf deine Tasche auf, Sassenach«, murmelte Jamie mir ins Ohr und schob mich durch die enge Lücke zwischen einem Turban tragenden Sklaven, der zwei kleine Kinder umklammert hielt, und einem Straßenprediger, der auf einer Kiste thronte. Er schrie Sodom und Gomorrha, aber bei dem Lärm konnte man nur jedes dritte Wort verstehen.
»Ich habe sie zugenäht«, sagte ich und griff trotzdem nach dem kleinen Gewicht, das an meinem Oberschenkel baumelte. »Was ist mit deiner?«
Er grinste und schob seinen Hut hoch. Seine dunkelblauen Augen blinzelten in das gleißende Sonnenlicht.
»Die ist da, wo ich den Sporran tragen würde, wenn ich einen hätte. Solange mir keine Hure mit langen Fingern begegnet, kann mir nichts passieren.«
Ich blickte auf die leicht ausgebeulte Vorderseite seiner Kniehose und sah dann zu ihm hoch. Er war breitschultrig und hochgewachsen, und mit seinen ausgeprägten, kühnen Gesichtszügen und der stolzen Haltung des Highlanders zog er die Blicke aller Frauen auf sich, an denen er vorbeiging – und das, obwohl sein leuchtendes Haar unter einem nüchternen blauen Dreispitz verborgen war. Die Kniehose war eine Leihgabe und viel zu eng, was den allgemeinen Effekt nicht im Geringsten minderte – und verstärkt wurde er noch dadurch, dass er selbst sich dessen nicht bewusst war.
»Du bist eine wandelnde Einladung für Huren«, sagte ich. »Bleib in meiner Nähe, ich beschütze dich.«
Er lachte und nahm mich beim Arm, als wir auf einen kleinen, freien Platz hinaustraten.
»Ian!«, rief er, als er seinen Neffen über die Köpfe der Menschenmenge hinweg erblickte. Einen Augenblick später tauchte ein hochgewachsener, sehniger Bauernlümmel aus der Menge auf, schob sich ein braunes Haarbüschel aus den Augen und grinste breit.
»Ich dachte schon, ich würd dich nie finden, Onkel Jamie!«, rief er aus. »Himmel, hier gibt’s ja mehr Leute als am Lawnmarket in Edinburgh!« Er wischte sich mit dem Hemdsärmel über sein langes, unscheinbares Gesicht und hinterließ einen Schmutzstreifen auf der einen Wange.
Jamie beäugte seinen Neffen misstrauisch.
»Dein Frohsinn scheint mir ein bisschen fehl am Platz, Ian, wenn man bedenkt, dass du gerade einen Mann hast sterben sehen.«
Ian änderte hastig seine Miene und bemühte sich, den angemessenen Ernst an den Tag zu legen.
»O nein, Onkel Jamie«, sagte er. »Ich war nicht bei der Hinrichtung.« Duncan zog eine Augenbraue hoch, und Ian errötete leicht. »Ich – ich hatte keine Angst zuzuschauen, aber es war so, ich … hatte etwas anderes vor.«
Jamie zeigte die Spur eines Lächelns und klopfte seinem Neffen auf den Rücken.
»Mach dir keine Sorgen, Ian, ich wäre lieber auch nicht dabei gewesen, aber Gavin war nun mal mein Freund.«
»Das weiß ich, Onkel Jamie. Tut mir leid.« Mitgefühl blitzte in den braunen Augen des Jungen auf, das Einzige in seinem Gesicht, was man mit Fug und Recht schön nennen konnte. Er sah mich an. »War es schlimm, Tante Claire?«
»Ja«, sagte ich. »Aber es ist vorbei.« Ich zog mir das feuchte Taschentuch aus dem Ausschnitt und stellte mich auf die Zehenspitzen, um ihm den Flecken von der Wange zu wischen.
Duncan Innes schüttelte traurig den Kopf. »Aye, armer Gavin. Aber immer noch ein schnellerer Tod als Verhungern, und etwas anderes wäre ihm kaum übriggeblieben.«