»Wenn das so ist, sollten wir Sie vielleicht besser nicht stören«, sagte eine angenehme amerikanische Stimme.
»Oh, ich vergaß«, sagte Claire und wandte sich halb zu der jungen Frau um, die außer Sichtweite in einer Ecke der Eingangsveranda gestanden hatte. »Roger Wakefield – meine Tochter Brianna.«
Brianna Randall trat mit einem schüchternen Lächeln vor. Im ersten Moment starrte Roger sie an, dann besann er sich auf seine Manieren. Er trat zurück und hielt die Tür weit offen, während er sich flüchtig fragte, wann er zuletzt das Hemd gewechselt hatte.
»Nicht doch, nicht doch!«, sagte er herzlich. »Ich wollte sowieso gerade Pause machen. Kommen Sie doch herein.«
Er winkte die beiden Frauen durch den Flur in das Studierzimmer des Reverends und nahm dabei zur Kenntnis, dass die Tochter eins der größten Mädchen war, die er je aus der Nähe gesehen hatte. Sie war bestimmt eins achtzig groß, dachte er, als er sah, dass sich ihr Kopf auf einer Höhe mit der Flurgarderobe befand. Im Weitergehen richtete er sich unbewusst zu seiner vollen Größe von einem Meter neunzig auf und duckte sich erst im letzten Moment, um sich den Kopf nicht am Türsturz des Studierzimmers zu stoßen, als er den Frauen hineinfolgte.
»Eigentlich wollte ich ja schon eher kommen«, sagte Claire und machte es sich in dem gewaltigen Armsessel noch ein wenig bequemer. Die vierte Wand des Studierzimmers hatte Fenster, die vom Boden bis zur Decke reichten, und das Sonnenlicht schimmerte auf der Perlmuttspange in ihrem hellbraunen Haar. Allmählich lösten sich die Locken aus ihrer Befestigung, und sie schob sich beim Reden geistesabwesend eine Strähne hinter das Ohr.
»Ich hatte die Reise letztes Jahr schon gebucht, aber dann gab es einen Notfall in der Klinik in Boston – ich bin Ärztin«, erklärte sie, und ihr Mundwinkel verzog sich ein wenig, denn es gelang Roger nicht, seine Überraschung zu verbergen. »Aber es tut mir leid, dass wir es nicht getan haben; ich hätte Ihren Vater gern noch einmal gesehen.«
Roger fragte sich, warum sie dann jetzt gekommen waren, obwohl sie doch wussten, dass der Reverend tot war, doch die Frage kam ihm unhöflich vor. Stattdessen fragte er: »Und jetzt besuchen Sie die hiesigen Sehenswürdigkeiten?«
»Ja, wir sind mit dem Auto aus London gekommen«, antwortete Claire. Sie lächelte ihre Tochter an. »Ich wollte, dass Brianna das Land sieht; man glaubt es zwar nicht, wenn man sie reden hört, aber sie ist genauso Engländerin wie ich, auch wenn sie nie hier gelebt hat.«
»Tatsächlich?« Roger betrachtete Brianna. Sie sah überhaupt nicht englisch aus, beschloss er; abgesehen von ihrer Größe, hatte sie dichtes rotes Haar, das sie lose auf den Schultern trug, und kräftige, scharfkantige Gesichtsknochen. Ihre Nase war lang und gerade – vielleicht einen Hauch zu lang.
»Ich bin in Amerika geboren«, sagte Brianna, »aber meine Eltern sind – waren – beide Engländer.«
»Waren?«
»Mein Mann ist vor zwei Jahren gestorben«, erklärte Claire. »Ich glaube, Sie kannten ihn – Frank Randall.«
»
Der Name erklärte eine Menge; Frank Randall war ein bedeutender Historiker gewesen und ein guter Freund des Reverends; sie hatten jahrelang jakobitische Obskuritäten miteinander ausgetauscht, obwohl es mindestens zehn Jahre her war, dass Frank Randall zuletzt im Pfarrhaus gewesen war.
»Dann … wollen Sie die historischen Stätten in der Gegend von Inverness besuchen?«, fragte Roger. »Sind Sie schon in Culloden gewesen?«
»Noch nicht«, antwortete Brianna. »Wir wollten es im Lauf der Woche tun.« Ihr Lächeln war höflich, mehr nicht.
»Wir haben für heute Nachmittag eine Tour am Loch Ness gebucht«, sagte Claire. »Und vielleicht fahren wir morgen nach Fort William, oder wir sehen uns einfach nur in Inverness um; der Ort ist anständig gewachsen, seit ich das letzte Mal hier war.«
»Wann ist das gewesen?« Roger fragte sich, ob er seine Dienste als Fremdenführer anbieten sollte. Eigentlich hatte er dazu keine Zeit, aber die Randalls waren gute Freunde des Reverends gewesen. Außerdem war eine Autofahrt nach Fort William in Gesellschaft zweier attraktiver Damen deutlich verlockender als das Ausräumen der Garage, was der nächste Punkt auf seiner Liste war.
»Oh, vor über zwanzig Jahren. Es ist lange her.« Claires Stimme hatte einen seltsamen Unterton, der Roger bewog, sie anzusehen, doch sie erwiderte seinen Blick mit einem Lächeln.
»Nun ja«, wagte er sich vor, »falls ich irgendetwas für Sie tun kann, solange Sie in den Highlands sind …«
Claire lächelte zwar weiter, doch in ihrem Gesicht änderte sich etwas. Er hätte fast glauben können, dass sie auf die Gelegenheit gewartet hatte. Sie richtete den Blick auf Brianna, dann wieder auf Roger.
»Da Sie es erwähnen«, sagte sie, und ihr Lächeln wurde breiter.