»Ich habe den Herren eine kleine Erfrischung mitgebracht«, verkündete sie und stellte das Teetablett entschlossen mitten auf den Schreibtisch, von dem der Reverend seine kostbaren Depeschen nur um Haaresbreite rettete. Sie sah mich scharf an, und ihr entging offenbar nicht, dass ich allmählich hinwegdämmerte und meine Augen glasig wurden.
»Ich habe nur zwei Tassen mitgebracht, weil ich dachte, Mrs. Randall möchte vielleicht mit in die Küche kommen. Ich habe ein bisschen …« Ich wartete das Ende ihrer Einladung gar nicht ab, sondern sprang mit unvermittelt neu erwachten Lebensgeistern auf. Den nächsten Ausbruch der Theorien konnte ich noch hinter mir hören, als wir uns durch die Schwingtür schoben, die in die Küche des Pfarrhauses führte.
Der Tee war golden, heiß und duftend, und kleine Blattstückchen wirbelten in der Flüssigkeit umher.
»Mmm«, sagte ich und stellte die Tasse hin. »Ich habe so lange keinen Oolong mehr getrunken.«
Mrs. Graham nickte. Sie strahlte, weil ihr Tee mir solche Freude machte. Sie hatte sich sichtlich Mühe gegeben; unter dem feinen Porzellan lagen handgeklöppelte Spitzendeckchen, und es gab Schlagrahm zu den Scones.
»Aye, im Krieg war er nicht zu bekommen. Dabei ist er zum Lesen am besten. Mit dem Earl Grey musste ich immer so sehr kämpfen. Die Blätter fallen derart schnell auseinander, dass es kaum möglich ist, etwas dazu zu sagen.«
»Oh, Sie lesen aus dem Teesatz?«, fragte ich leicht belustigt. Nichts konnte weiter von dem Bild entfernt sein, das man im Allgemeinen von einer Wahrsagerin hatte, als Mrs. Graham mit ihrer kurzen, stahlgrauen Dauerwelle und der dreireihigen Perlenkette. Ein Schluck Tee lief ihr sichtbar durch den langen, sehnigen Hals und verschwand hinter den schimmernden Perlen.
»Oh, gewiss doch, meine Liebe. So, wie es mich meine Großmutter gelehrt hat und ihre Großmutter zuvor. Trinken Sie aus, dann schaue ich, was Sie da haben.«
Sie blieb lange still. Hin und wieder hielt sie die Tasse schräg, um das Licht einzufangen, oder sie drehte sie in ihren schmalen Händen, um sie aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten.
Schließlich stellte sie die Tasse so vorsichtig hin, als hätte sie Angst, dass sie ihr um die Ohren fliegen könnte. Die Falten in ihren Mundwinkeln hatten sich vertieft, und ihre Augenbrauen zogen sich zu einer Miene zusammen, die Verwunderung auszudrücken schien.
»Tja«, sagte sie endlich. »Etwas so Seltsames ist mir noch nicht oft untergekommen.«
»Oh?« Ich war zwar immer noch belustigt, wurde aber langsam neugierig. »Werde ich einem mysteriösen Fremden begegnen oder eine Seereise unternehmen?«
»Vielleicht.« Mein ironischer Ton war Mrs. Graham nicht entgangen, und sie benutzte einen ähnlichen Ton und lächelte ein wenig. »Vielleicht auch nicht. Das ist ja das Merkwürdige an Ihrer Tasse, meine Liebe. Alles darin ist widersprüchlich. Das geschwungene Blatt für eine Reise ist da, aber es kreuzt sich mit dem geknickten Blatt, das bedeutet, dass man bleibt, wo man ist. Und Fremde gibt es auch, mehrere sogar. Und einer davon ist Ihr Mann, wenn ich die Blätter richtig lese.«
Meine Belustigung schwand ein wenig. Nach mehr als sechs Jahren der Trennung und insgesamt nur sechs gemeinsamen Monaten
Mrs. Grahams Stirn war nach wie vor gerunzelt. »Lassen Sie mich Ihre Hand sehen, Kindchen«, bat sie.
Die Hand, die die meine hielt, war knochig, aber überraschend warm. Vom ordentlichen Scheitel des grauen Kopfes, der sich über meine Handfläche beugte, stieg Lavendelduft auf. Sie betrachtete meine Hand ziemlich lange. Hin und wieder zeichnete sie eine der Linien mit dem Finger nach, als folgte sie einer Landkarte, deren Straßen sich allesamt in angespültem Sand oder einsamen Wüsten verliefen.
»Nun, was ist mit meinen Handlinien?«, fragte ich und versuchte, unbeschwert zu klingen. »Oder ist mein Schicksal zu grauenvoll, um es zu enthüllen?«
Mrs. Graham hob fragend den Blick und sah mir nachdenklich ins Gesicht, doch sie ließ meine Hand nicht los. Sie schüttelte den Kopf und spitzte die Lippen.
»Oh nein, meine Liebe. Es ist ja nicht Ihr Schicksal, das in Ihrer Hand liegt. Nur seine Keimzelle.« Sie legte den Kopf schief wie ein Vogel und überlegte. »Wissen Sie, die Linien in Ihrer Hand verändern sich. Es ist gut möglich, dass sie zu einem anderen Zeitpunkt in Ihrem Leben völlig anders sind als jetzt.«
»Das wusste ich gar nicht. Ich dachte, man wird damit geboren, und das war’s dann.« Ich unterdrückte den Drang, meine Hand fortzuziehen. »Welchen Sinn hat denn dann das Handlesen?« Ich wollte gar nicht unhöflich klingen, aber die Art, wie sie mich unter die Lupe nahm, machte mich nervös, vor allem so unmittelbar nach der Episode mit dem Teesatz. Mrs. Graham lächelte unerwartet und schloss meine Finger über meiner Handfläche.