Im Moment war niemand in der Nähe, und ich nutzte die Gelegenheit, um die oberen Etagen der Burg zu erkunden. Ich steckte die Nase in leere Zimmer, überquerte gewundene Treppen und legte mir im Kopf einen Grundriss der Burg an. Gelinde gesagt war es ein höchst asymmetrischer Grundriss. Im Lauf der Jahre war immer wieder hier und dort etwas angebaut worden, bis kaum noch zu sagen war, ob es ursprünglich einmal einen Plan gegeben hatte. In diesem Saal zum Beispiel war neben der Treppe ein Alkoven in die Wand eingelassen, der anscheinend keinem anderen Zweck diente, als ein Stück Platz zu füllen, das zu klein für ein komplettes Zimmer war.
Der Alkoven war zum Teil durch einen gestreiften Leinenvorhang gegen Blicke abgeschirmt; ich wäre daran vorbeigegangen, ohne anzuhalten, wenn nicht ein plötzliches weißes Aufblitzen im Inneren meine Aufmerksamkeit erregt hätte. Ich blieb dicht vor der Öffnung stehen und lugte hinein, um zu sehen, was es war. Es war Jamies Hemdsärmel, der um den Rücken eines Mädchens gelegt war, um sie zu einem Kuss an sich zu ziehen. Sie saß auf seinem Schoß, und ihr blondes Haar fing das Sonnenlicht, das durch einen Schlitz drang, und spiegelte es wider wie die Oberfläche eines Forellenbachs an einem hellen Morgen.
Ich blieb stehen, unsicher, was ich tun sollte. Ich hatte nicht vor, sie zu belauschen, hatte aber Angst, dass das Geräusch meiner Schritte auf den Steinen des Korridors sie auf mich aufmerksam machen würde. Während ich noch zögerte, löste sich Jamie aus der Umarmung und blickte auf. Sein Blick traf den meinen, und der Alarm in seiner Miene verschwand, als er mich erkannte. Mit hochgezogener Augenbraue und einem etwas ironischen Achselzucken setzte er sich das Mädchen fester auf das Knie und machte sich wieder ans Werk. Ich zuckte ebenfalls mit den Achseln und entfernte mich auf Zehenspitzen. Es ging mich nichts an. Allerdings bezweifelte ich kaum, dass sowohl Colum als auch der Vater des Mädchens dieses Verhalten höchst »ungehörig« finden würden. Gut möglich, dass er sich die nächste Prügelstrafe selbst zuschreiben musste, wenn er sich den Ort für eine solche Zusammenkunft nicht vorsichtiger aussuchte.
Als ich ihn an diesem Abend mit Alec beim Essen sah, setzte ich mich ihnen gegenüber an den langen Tisch. Jamie begrüßte mich zwar freundlich, aber mit einem Hauch von Wachsamkeit in den Augen. Alec wiederum hatte nicht mehr als sein übliches »Mmpfm« für mich übrig. Wie er mir an der Koppel erklärt hatte, besaßen Frauen keinen angeborenen Pferdeverstand, weshalb man nur schwer mit ihnen reden konnte.
»Wie geht denn das Einreiten voran?«, fragte ich, um das geschäftige Kauen auf der anderen Seite des Tischs zu unterbrechen.
»Nicht schlecht«, antwortete Jamie vorsichtig.
Ich sah ihn über meinen Teller hinweg an. »Dein Mund sieht ein bisschen geschwollen aus, Jamie. Hat dich ein Pferd gestoßen?«, fragte ich boshaft.
»Aye«, antwortete er und kniff die Augen zusammen. »Hat den Kopf herumgedreht, als ich nicht aufgepasst habe.« Sein Ton war zwar gelassen, doch ich spürte, wie sich unter dem Tisch ein großer Fuß auf den meinen senkte. Im Moment ruhte er leicht darauf, doch die Drohung war klar.
»Du Armer, diese kleinen Stuten können wirklich gefährlich sein«, sagte ich unschuldig.
Der Fuß senkte sich fest, und Alec sagte: »Stuten? Du arbeitest doch gar nicht mit einer Stute, oder, Junge?« Ich versuchte, meinen anderen Fuß als Hebel zu benutzen; da mir das nicht gelang, trat ich Jamie fest gegen den Knöchel. Er zuckte plötzlich zusammen.
»Was hast du denn?«, wollte Alec wissen.
»Mir auf die Zunge gebissen«, murmelte Jamie und funkelte mich über die Hand hinweg an, die er sich vor den Mund geschlagen hatte.
»Tollpatsch. Aber was soll man auch von einem Idioten erwarten, der es nicht schafft, einem Pferd auszuweichen, wenn …« Alec fuhr mehrere Minuten fort, seinen Gehilfen ausführlich der Unbeholfenheit, der Trödelei, der Dummheit und der allgemeinen Unfähigkeit zu bezichtigen. Jamie, vermutlich der am wenigsten unbeholfene Mensch, der mir je begegnet war, hielt den Kopf gesenkt und ließ sich durch die Tirade nicht beim Essen stören, auch wenn seine Wangen rot wurden. Ich hielt den Blick während der restlichen Mahlzeit sittsam auf meinen Teller gerichtet.
Jamie verzichtete auf einen Nachschlag, stand abrupt vom Tisch auf und verließ den Saal, womit er Alecs Tirade ein Ende setzte. Der alte Stallmeister und ich kauten ein paar Minuten schweigend vor uns hin. Dann wischte Alec mit dem letzten Stück Brot über seinen Teller, steckte es in den Mund und lehnte sich zurück, um mich mit seinem blauen Auge sardonisch zu betrachten.
»Ihr solltet den Jungen nicht so aufziehen«, sagte er ganz beiläufig und so, dass nur ich ihn hören konnte. »Wenn der Vater des Mädchens oder Colum davon erfahren, könnte sich unser Jamie mehr einhandeln als nur ein blaues Auge.«
»Zum Beispiel eine Ehefrau?« Ich sah ihn unverblümt an. Er nickte langsam.
»Möglich. Und das ist nicht die Ehefrau, die er haben sollte.«