Es ist ein gewöhnlicher Morgen. Um sieben Uhr beginnt das Glockenspiel der Kapelle wieder jede Viertelstunde das Entschwinden der Zeit zu skandieren. Nach der nächtlichen Ruhepause fangen meine verschleimten Bronchien wieder an, laut zu rasseln. Meine verkrampft auf dem gelben Bettuch liegenden Hände tun mir weh, ohne daß ich entscheiden kann, ob sie heiß oder eiskalt sind. Um etwas gegen die Gelenksteife zu tun, löse ich eine Reflexbewegung aus, die Arme und Beine um einige Millimeter dehnt. Das reicht oft, um ein schmerzendes Glied zu entlasten.
Der Taucheranzug wird weniger drückend, und der Geist kann wie ein Schmetterling umherflattern. Es gibt so viel zu tun. Man kann davonfliegen in den Raum oder in die Zeit, nach Feuerland oder an den Hof von König Midas.
Man kann die geliebte Frau besuchen, sich neben sie legen und ihr noch schlafendes Gesicht streicheln. Man kann Luftschlösser bauen, das Goldene Flies erkämpfen, Atlantis entdecken, seine Kinderträume und Erwachsenenphantasien verwirklichen.
Aber genug der Zerstreuung! Ich will ein Tagebuch meiner Reise auf der Stelle verfassen und muß mir den Anfang ausdenken, bevor die Abgesandte meines Verlegers kommt, um ihn sich Buchstabe für Buchstabe diktieren zu lassen. In meinem Kopf drehe und wende ich jeden Satz zehnmal, lasse ein Wort weg, füge ein Adjektiv hinzu und lerne meinen Text Absatz für Absatz auswendig.
Sieben Uhr dreißig. Die diensthabende Krankenschwester unterbricht meinen Gedankengang. Nach einem eingespielten Ritual zieht sie den Vorhang auf, kontrolliert Luftröhrenschnitt und Tropf und stellt den Fernseher für die bevorstehenden Nachrichten an. Vorerst erzählt ein Zeichentrickfilm die Geschichte der schnellsten Kröte der westlichen Welt. Wie wär's, wenn ich ein Gelübde ablegte, damit ich in eine Kröte verwandelt werde?
Der Stuhl
Noch nie zuvor hatte ich so viele weiße Kittel in meinem kleinen Zimmer gesehen. Die Krankenschwestern, die Pfleger, die Heilgymnastin, die Psychologin, der Ergotherapeut, die Neurologin, die Assistenzärzte und sogar der große Chef, das ganze Krankenhaus hatte sich für den besonderen Anlaß herbegeben. Als sie hereinkamen und das Gerät an mein Bett schoben, dachte ich zuerst, ein neuer Mieter ergreife Besitz von dem Raum. Seit einigen Wochen in Berck, erklomm ich die Ufer des Bewußtseins jeden Tag ein bißchen höher, aber ich verstand die Verbindung nicht, die es zwischen einem Rollstuhl und mir geben konnte.
Niemand hatte mir bisher ein genaues Bild von meiner Situation vermittelt, und aus hier und da aufgesammeltem Klatsch hatte ich mir die Gewißheit zurechtgezimmert, daß ich sehr schnell Beweglichkeit und Sprache wiederfinden würde.
Mein umherschweifender Geist entwarf sogar tausend Pläne: einen Roman, Reisen, ein Theaterstück und die Kommerzialisierung eines von mir erfundenen Fruchtcocktails.
Fragen Sie mich nicht nach dem Rezept, ich habe es vergessen.