»Nein, Bruder, kein aber; doch wenn die Ohrringe, die am gleichen Tage und zur selben Stunde in Mikolais Hände geraten sind, tatsächlich einen wichtigen Beweis gegen ihn – welcher jedoch durch seine Aussagen sehr erschüttert wird – also einen strittigen Beweis darstellen, so muß man doch auch die entlastenden Tatsachen mit in Betracht ziehen, um so mehr, als diese Tatsachen unwiderlegbar sind. Was hältst du aber von unserer Jurisprudenz: werden sie eine solche Tatsache, die einzig auf der psychologischen Unmöglichkeit, einzig auf einer seelischen Stimmung begründet ist, als eine unwiderlegbare Tatsache, die sämtliche belastenden und gegenständlichen Tatsachen, welcher Art sie auch seien, vollkommen zerstört, gelten lassen und sind sie dessen überhaupt fähig? Nein, sie werden es für nichts in der Welt so auffassen, weil sie einmal das Kästchen gefunden haben und weil der Mann sich hat erhängen wollen, ›was nicht der Fall wäre, wenn er sich nicht schuldig fühlte!‹ Das ist die Kardinalfrage, deswegen rege ich mich so auf! Begreife es doch!«
»Das sehe ich auch, daß du dich aufregst. Wart', ich vergaß, dich zu fragen: wodurch ist es bewiesen, daß die Schachtel mit den Ohrringen tatsächlich aus der Truhe der Alten stammt?«
»Das ist bewiesen,« antwortete Rasumichin finster und, wie es schien, mit Unlust. »Koch erkannte den Gegenstand und gab auch denjenigen an, der ihn verpfändet hatte, und jener erklärte positiv, daß der Gegenstand tatsächlich ihm gehörte.«
»Das ist schlimm. Jetzt noch eine Frage: Hat denn niemand den Mikolai um jene Zeit gesehen, als Koch und Pestrjakow nach oben gingen, und kann man es nicht irgendwie beweisen?«
»Das ist es eben, daß ihn niemand gesehen hat,« antwortete Rasumichin ärgerlich. »Das ist eben so schlimm; selbst Koch und Pestrjakow haben die Anstreicher nicht gesehen, als sie nach oben gingen, obwohl ihre Aussage jetzt nicht viel zu bedeuten hätte. Sie sagen; ›Wir haben wohl gesehen, daß die Wohnung offen stand und daß darin wahrscheinlich gearbeitet wurde, doch im Vorbeigehen schenkten wir dem keine Beachtung und können uns nicht erinnern, ob in jenem Augenblick Arbeiter in der Wohnung waren oder nicht.‹«
»Hm! ... Folglich ist der einzige Gegenbeweis, daß sie sich miteinander balgten und lachten. Zugegeben, daß das ein gewichtiger Beweis ist, aber ... Erlaube jetzt: wie erklärst du selbst diese Tatsache? Wie erklärst du den Fund der Ohrringe, wenn er sie wirklich so gefunden hat, wie er aussagt?«
»Wie ich das erkläre? Da ist nichts zu erklären, die Sache ist ja klar! Jedenfalls ist der Weg, auf dem man diese Sache verfolgen muß, klar gegeben, und gerade die Schachtel hat ihn aufgedeckt. Der wahre Mörder hat diese Ohrringe fallen lassen. Als Koch und Pestrjakow klopften, saß der Mörder oben in der Wohnung eingeschlossen. Koch machte die Dummheit und ging hinunter; in diesem Augenblick sprang der Mörder heraus und lief gleichfalls hinunter, denn er hatte keinen anderen Ausweg. Auf der Treppe versteckte er sich vor Koch, Pestrjakow und dem Hausknecht in die leere Wohnung, gerade in dem Augenblick, als Dmitrij und Mikolai herausgelaufen waren; als der Hausknecht und die anderen hinaufgingen, stand er hinter der Tür, wartete, bis ihre Schritte verhallten, und ging dann ganz ruhig hinunter, gerade in dem Augenblick, als Dmitrij und Mikolai auf die Straße hinausgelaufen waren und alle sich verzogen hatten, so daß kein Mensch mehr im Torweg blieb. Vielleicht sah man ihn auch, merkte ihn sich aber nicht: es gehen doch genug Menschen vorbei! Die Schachtel ließ er aber aus der Tasche fallen, als er hinter der Tür stand; er merkte nicht, daß er sie hat fallen lassen, weil er an andere Dinge zu denken hatte. Die Schachtel ist aber ein klarer Beweis dafür, daß er gerade hinter der Tür gestanden hat. Das ist der ganze Witz!«
»Sehr schlau! Nein, Bruder, das ist zu schlau. Das ist schlauer als alles!«
»Aber warum denn, warum denn?«
»Weil alles gar zu genau ineinander paßt ... und die Fäden so fein verschlungen sind ... wie im Theater.«
»Ach Gott!« begann Rasumichin, aber in diesem Augenblick ging die Tür auf, und herein trat eine neue Person, die allen Anwesenden unbekannt war.
V