An der Decke sprangen summend die grellen Neonröhren an und beleuchteten einen unglaublichen Anblick: den riesenhaften Körper eines völlig durchnässten, schwer verletzten Mannes, der bei einem der Materialregale zusammengesunken war. Er sah aus wie ein schräger Grufti-Albtraum: schwarze Lederjacke, T-Shirt, Drillichhosen und geschnürte Lederstiefel mit dicken Profilsohlen. Sogar sein Haar war schwarz, die nassen Strähnen klebten ihm am Kopf und verdeckten sein abgewandtes Gesicht. Eine hässliche Spur aus Blut und Flusswasser zog sich von der Hintertür, die zur Gasse halb offen stand, bis zu der Stelle, wo der Mann in Tess’ Lagerraum zusammengebrochen war. Er hatte sich offensichtlich kriechend hereingeschleppt, wahrscheinlich konnte er nicht mehr gehen.
Wenn sie es nicht gewohnt gewesen wäre, die grauenvollen Folgen von Verkehrsunfällen, Schlägen und anderen körperlichen Traumata Tag für Tag an ihren Tierpatienten zu sehen, hätte der Anblick seiner Verletzungen Tess den Magen umgedreht.
Stattdessen schaltete sich nun ihr Verstand ein. Die aufsteigende Panik und der instinktive Drang, zu kämpfen oder zu fliehen, die sie eben noch im Empfangsraum gespürt hatte, wichen nun der Ärztin, zu der sie ausgebildet war. Jetzt war sie nur noch nüchtern, ruhig und besorgt.
„Was ist mit Ihnen passiert?“
Der Mann stöhnte und schüttelte leicht seinen dunklen Kopf, so als ob er ihr nicht davon erzählen wollte. Wahrscheinlich konnte er das auch gar nicht mehr.
„Sie haben überall Brand- und Fleischwunden. Mein Gott, das müssen ja Hunderte sein. Hatten Sie einen Unfall?“ Sie sah an ihm hinab, eine seiner Hände ruhte auf seinem Unterbauch, und durch die Finger sickerte Blut aus einer frischen, tiefen Wunde. „Sie bluten aus dem Bauch – und an den Beinen auch. Lieber Himmel, sind Sie angeschossen worden?“
„Brauche … Blut.“
Da hatte er vermutlich recht. Der Boden, auf dem er lag, war rutschig und dunkel von dem Blut, das er seit seiner Ankunft in der Klinik verloren hatte. Wahrscheinlich hatte er auch schon vorher eine Menge Blut verloren. Fast jeder Zentimeter seiner unbedeckten Haut war voller Wunden – sein Gesicht und Hals, seine Hände. Wo Tess auch hinsah, überall sah sie blutende Schnitte und Quetschungen. Seine Wangen und sein Mund waren von gespenstischer Blässe.
„Sie brauchen einen Notarzt“, sagte sie zu ihm. Sie wollte ihn nicht beunruhigen, aber verdammt, er war in einem bedenklichen Zustand. „Entspannen Sie sich. Ich rufe Ihnen einen Krankenwagen.“
„Nein!“ Er bäumte sich aus seiner zusammengesunkenen Position auf, streckte in Panik die Hand nach ihr aus. „Kein Krankenhaus! Ich kann … kann da nicht hingehen … die werden … können mir nicht helfen.“
Trotz seines Protestes wandte sich Tess ab und wollte ins andere Zimmer gehen, zum Telefon. Doch da erinnerte sie sich an den gestohlenen Tiger, der es sich in einem ihrer Behandlungsräume bequem gemacht hatte. Wo der herkam, war dem Rettungsteam sicher schwer zu vermitteln, und erst recht – Gott behüte – der Polizei. Die Waffenhandlung hatte vermutlich schon Anzeige wegen Diebstahl erstattet, oder zumindest würde das bald geschehen, sobald sie dort in ein paar Stunden öffneten und das Verschwinden des Tigers bemerkten.
„Bitte“, stöhnte der riesenhafte Mann, der dabei war, ihr die ganze Klinik vollzubluten. „Keinen Notarzt.“
Tess hielt inne und sah ihn schweigend an. Er brauchte Hilfe, und das nicht zu knapp – und er brauchte sie jetzt. Leider sah es so aus, als wäre sie derzeit seine einzige Chance. Was sie hier für ihn tun konnte, wusste sie nicht genau, aber vielleicht konnte sie ihn immerhin notdürftig zusammenflicken, ihn auf die Beine bringen und zusehen, dass er verdammt noch mal von hier verschwand.
„Na schön“, sagte sie. „Also erst mal doch kein Notarzt. Hören Sie, äh – ich bin auch Ärztin. Jedenfalls mehr oder weniger. Das hier ist meine Tierklinik. Ist es für Sie in Ordnung, wenn ich ein bisschen näher komme und Sie mir mal ansehe?“
Das Zucken seines Mundes und sein schmerzhaftes Ausatmen ließ sie als ein Ja gelten.
Vorsichtig ließ sich Tess neben ihm auf dem Boden nieder. Vom anderen Ende des Raumes hatte er schon sehr groß ausgesehen, aber jetzt, wo sie neben ihm kauerte, sah sie, dass er wirklich ein Riese war, bestimmt zwei Meter groß und über hundert Kilo Gewicht, mit schwerem Knochenbau und bepackt mit fester Muskelmasse. Ob er Bodybuilder war? Einer dieser Machotypen, die ihr Leben im Kraftraum verbrachten? Aber irgendetwas an ihm sagte ihr, dass dem nicht so war. Mit seinem grimmig geschnittenen Gesicht wirkte er eher, als könnte er so einen aufgepumpten Eisenstemmer zum Mittagessen verspeisen.
Vorsichtig tastete sie sein Gesicht ab, suchte nach Brüchen. Sein Schädel war heil, aber sie spürte, dass er eine leichte Gehirnerschütterung erlitten haben musste. Wahrscheinlich stand er immer noch unter Schock.
„Ich sehe mir nur mal Ihre Augen an“, informierte sie ihn, dann hob sie eines seiner Augenlider an.