Tess geriet hinter eine Gruppe blonder, gebräunter, juwelenbehängter Society-Damen, die ihr die Sicht auf eine Vitrine mit italienischen Terrakottafigurinen verstellten. Sie unterhielten sich eifrig über das verpfuschte Stirnlifting von Mrs. Soundso und die Affäre einer gewissen Mrs. Sonstwie mit dem Tennistrainer des Countryclubs, der nicht einmal halb so alt war wie sie. Tess stand direkt hinter ihnen und versuchte wirklich, nicht zuzuhören, sondern sich nur die elegante Skulptur, Cornacchinis
Sie kam sich wie eine Hochstaplerin vor. Sowohl als Bens Begleiterin heute Abend als auch unter diesen Leuten, reichen Sponsoren und Gönnern des Kunstmuseums, denen die Veranstaltung eigentlich galt. Das waren eher Bens Kreise als ihre. In Boston geboren, war Ben mit Kunstmuseen und Theater aufgewachsen. Ihre kulturelle Bildung hatte sich auf Landwirtschaftsmessen und das kleine Kino im Dorf beschränkt. Was sie über Kunst wusste, war im besten Fall dürftig. Aber ihre Liebe zur Bildhauerei war für sie immer schon so etwas wie eine Flucht aus ihrem Alltag gewesen, besonders in den schweren Tagen daheim im ländlichen Illinois.
Damals war sie eine andere Person gewesen. Teresa Dawn Culver kannte sich mit Hochstaplern aus, dafür hatte ihr Stiefvater gesorgt, in jeder Hinsicht ein mustergültiger Bürger: erfolgreich, freundlich, mit festen moralischen Grundsätzen. Aber keine dieser Eigenschaften traf wirklich auf ihn zu. Jetzt war er schon seit fast neun Jahren tot, und auch ihre Mutter, von der sie sich entfremdet hatte, war vor Kurzem gestorben. Was Tess anging, hatte sie diese leidvolle Vergangenheit mit ihrem Umzug durch den halben Kontinent endgültig hinter sich gebracht.
Wenn sie doch auch ihre Erinnerungen loswerden könnte.
Das schreckliche Wissen, was sie getan hatte …
Tess konzentrierte ihre Aufmerksamkeit auf die eleganten Linien des Endymion. Als sie die Terrakottafigurine aus dem achtzehnten Jahrhundert in sich aufnahm, begannen die feinen Härchen in ihrem Nacken sich plötzlich aufzurichten. Hitze überströmte sie – nur sehr kurz, aber intensiv genug, dass sie sich nach ihrer Quelle umsah. Aber da war nichts. Die Gruppe tratschender Frauen ging weiter, und dann war Tess mit der Statue allein.
Wieder warf sie einen Blick in die Schauvitrine, ließ sich von der Schönheit des Kunstwerkes davontragen zu einem Ort des Friedens und des Trostes, an dem ihre privaten Sorgen nichts zu suchen hatten.
Eine tiefe Stimme, mit einem leichten, eleganten Akzent gefärbt, riss sie aus ihren Gedanken. Dort, auf der anderen Seite des gläsernen Schaukastens, stand ein Mann. Tess sah in whiskyfarbene Augen mit dicken, tuscheschwarzen Wimpern. Wenn sie schon dachte, dass sie in dieser Nobelveranstaltung fehl am Platz wirkte, dann tat es dieser Typ erst recht.
An die zwei Meter Dunkelheit starrten sie mit falkenhaften Augen und einem ernsten Selbstbewusstsein an, das fast schon bedrohlich wirkte. Er war ganz in Schwarz gekleidet, alles an ihm war schwarz: die schimmernden Wellen seines Haares, die breiten Falten seines Ledermantels, das hautenge Hemd, seine langen Beine, die offenbar in schwarzen Drillichhosen steckten.
Trotz seiner unpassenden, zwanglosen Aufmachung trug er ein Selbstbewusstsein zur Schau, als gehörte ihm das Museum. Er strahlte eine Aura von Macht aus, auch wenn er einfach nur ganz ruhig dastand. Aus allen Ecken des Raumes starrten Leute ihn an, nicht etwa verächtlich oder missbilligend, sondern mit Ehrerbietung und einer respektvollen Vorsicht – die auch Tess nicht umhin konnte zu fühlen. Sie merkte jetzt, dass sie ihn mit offenem Mund anstarrte, und sah schnell wieder auf die Skulptur, um der Hitze seines unerschütterlichen Blickes auszuweichen.
„Es ist – sehr schön“, stotterte sie und hoffte inständig, dass sie nicht so aufgescheucht aussah, wie sie sich gerade fühlte.
Unerklärlicherweise raste ihr Herz, und der seltsame, prickelnde Schmerz seitlich an ihrem Hals war wieder zurückgekehrt. Sie berührte die Stelle unter ihrem Ohr, wo nun ihr Puls dröhnte, und versuchte, ihn wegzumassieren. Aber das Gefühl wurde nur noch intensiver, es war wie ein Summen und Rauschen in ihrem Blut. Sie fühlte sich aufgekratzt und nervös, sie brauchte frische Luft. Als sie zum nächsten Exponat weitergehen wollte, kam der Mann um den Glaskasten herum und trat ihr in den Weg.
„Cornacchini ist ein Meister“, sagte er, der Name ein seidiges Grollen wie das Schnurren einer riesigen Katze. „Ich kenne nicht alle seine Werke, aber meine Eltern zu Hause in Italien waren große Kunstliebhaber.“
Italien. Das erklärte seinen wunderbaren Akzent. Da sie nun keinen einfachen Abgang mehr machen konnte, nickte Tess höflich. „Sind Sie schon lange in den Staaten?“
„Ja.“ Ein Lächeln umspielte seinen sinnlichen Mund. „Schon sehr, sehr lange. Mein Name ist Dante“, fügte er hinzu und hielt ihr seine riesige Hand hin.