Dante ignorierte sie. Selbst ein Libertin wie er, der ganz im Augenblick lebte, hatte gewisse Standards. Er bemerkte es kaum, als die Hure die Achseln zuckte und sich wieder davonmachte, weiter die Straße hinauf. „Du musst mir da was recherchieren, Gid.“
„Klar.“ Im Hintergrund war zu hören, wie Gideon auf seine Computertastatur einhämmerte. „Schieß los.“
„Kannst du mir was zu einem Kunstevent in einem Museum morgen Abend rausfinden?“
Für die Antwort brauchte Gideon keine Sekunde. „Ich hab da was – eine noble Sonderausstellung für Sponsoren und Kunstmäzene, mit Sektempfang, im Museum der schönen Künste. Morgen Abend, neunzehn Uhr dreißig.“
Das musste das Event sein, von dem Tess und ihr Freund am Gemüsestand gesprochen hatten. Ihre
Nicht dass es ihn zu interessieren hatte, was die junge Frau trieb oder mit wem. Der Gedanke, dass ein anderer sie anfasste oder küsste, sollte ihn kaltlassen. Oder wer womöglich seinen Schwanz in ihr drin hatte. Eigentlich sollte ihm das überhaupt nichts ausmachen. Aber verdammt noch mal, es machte ihm was aus.
„Was soll da los sein im Museum?“ Gideons Frage unterbrach seinen Gedankengang. „Hast du einen Tipp gekriegt?“
„Nein, nichts in der Art. Ich war einfach nur neugierig.“
„Was, du stehst jetzt auf Kunst?“ Der Krieger kicherte. „Meine Güte. Ein paar Stunden mit Harvard, und schon hast du Nebenwirkungen. Hätte dich nie für einen Kultursnob gehalten.“
Dante war nicht völlig kulturlos, aber das würde er Gideon ein andermal erklären.
„Vergiss es“, knurrte er in sein Handy.
Seine Verstimmung legte sich nur geringfügig, als er merkte, dass ihn schon wieder jemand im Visier hatte. Dieses Mal waren es zwei hübsche junge Frauen, die so aussahen, als seien sie aus einem Vorort in die City gekommen, um einen draufzumachen. College-Studentinnen, Anfang zwanzig, schätzte er – sie hatten frische Gesichter, feste, straffe Körper und trugen kunstvoll zerrissene, auf alt gemachte Designerjeans. Beide kicherten und strengten sich sichtlich an, unbeeindruckt auszusehen, als sie auf dem Weg in den Club an seinem Auto vorbeigingen.
„Also, wie ist es nun, D? Kommst du zurück ins Hauptquartier?“
„Nein“, sagte er, die Stimme dunkel, als er den Motor abstellte und den beiden Frauen hinterhersah. „Die Nacht ist noch jung. Ich denke, ich geh noch schnell einen Happen essen. Oder vielleicht auch zwei.“
Sterling Chase ging in seiner Wohnung im Dunklen Hafen unruhig auf und ab. Er fühlte sich wie ein Tier im Käfig, nervös und ängstlich zugleich. Obwohl die Nacht nicht direkt ein Erfolg gewesen war, musste er sich eingestehen, dass er nach seiner ersten Streife ein gewisses Hochgefühl verspürte. Für den arroganten, feindseligen Krieger, dem er zugeteilt worden war, hatte er nicht viel übrig. Aber er machte sich bewusst, dass der Grund, weshalb er die Hilfe des Ordens gesucht hatte, weit wichtiger war als die herablassende Behandlung durch Dante und seine Gefährten, der er in den nächsten paar Wochen ausgesetzt sein würde.
Er war nun schon einige Stunden zu Hause. In nur wenigen weiteren Stunden würde bereits die Sonne aufgehen. Aber ihm war nicht danach zu schlafen.
Im Moment war ihm danach, mit jemandem zu reden.
Natürlich kam ihm zuerst Elise in den Sinn.
Aber um diese Zeit, sagte er sich, würde sie sich schon in ihre Gemächer zurückgezogen und sich zum Schlafen zurechtgemacht haben. Er konnte sie vor sich sehen, wie sie an ihrem kleinen Schminktisch saß, wahrscheinlich nackt unter fließender, durchsichtiger weißer Seide, und sich ihr langes, blondes Haar kämmte. Ihre lavendelblauen Augen geschlossen, abwesend vor sich hinsummend – das war eine Angewohnheit von ihr, die ihm schon bei ihrem ersten Treffen aufgefallen war und die sie in seinen Augen nur noch liebenswerter machte.
Sie war so sanft und zerbrechlich und nun schon seit fünf Jahren Witwe. Elise würde sich keinen neuen Gefährten suchen; in seinem tiefsten Herzen wusste er das. Und ein Teil von ihm war froh über ihre Weigerung, wieder zu lieben – das Recht jeder Stammesgefährtin, die ihren Geliebten verloren hatte –, denn während es bedeutete, dass er mit seinem unerfüllten Begehren leben musste, würde er dafür auch nie den noch vernichtenderen Schlag hinnehmen müssen, sie in den Armen eines anderen zu wissen.
Aber ohne einen Vampir des Stammes, der sie mit der Gabe seines Blutes nährte und damit den Alterungsprozess ihres Körpers aufhielt, würde Elise, die von menschlicher Geburt war wie jede Stammesgefährtin, eines Tages altern und sterben. Das war es, was ihn am traurigsten machte. Er würde sie vielleicht nie haben können, aber was er mit Sicherheit wusste, war, dass er sie eines Tages, in nur sechzig oder siebzig Jahren – für seine Spezies war das nicht mehr als ein Augenzwinkern –, ganz verlieren würde.
Vielleicht war das der Grund, warum er sich so sehnlich wünschte, ihr jeden erdenklichen Schmerz zu ersparen.
Er liebte sie, so wie er sie immer geliebt hatte.