Obwohl ihre Verbitterung nicht nur von der Aussicht auf schalen Reis und gummiartiges Hähnchenfleisch herrührte, beäugte sie den tiefgefrorenen Klumpen voller Abscheu. Wann, fragte sie sich, hatte sie sich eigentlich das letzte Mal mit eigenen Händen etwas Gutes zu essen gekocht?
Wann hatte sie das letzte Mal überhaupt irgendetwas Gutes für sich getan?
Zu verdammt lang her, entschied sie, und fegte das Zeug vom Tisch in den Mülleimer.
Special Agent Sterling Chase mit erweiterter Handlungsbefugnis meldete sich pünktlich zur Abenddämmerung im Hauptquartier der Stammeskrieger. Man musste es ihm schon zugutehalten – Anzug und Krawatte hatte er abgelegt, stattdessen trug er ein grafitgraues Strickhemd, schwarze Denimjeans und schwarze Lederstiefel mit dicken Profilsohlen. Auch an eine dunkle Kappe hatte er gedacht, um sein helles Haar zu verbergen. So wie er jetzt aussah, dachte Dante, konnte man fast vergessen, dass der Kerl Zivilist war.
Aber leider kaschierte keine Tarnkleidung der Welt, dass Harvard momentan Dantes offizielle Nervensäge Nummer eins war. Zu dumm.
„Wenn wir je eine Bank ausrauben, weiß ich immerhin, wer mir Tipps für meine Garderobe gibt“, sagte er zu dem Agenten und schlüpfte in seinen ledernen Trenchcoat, der innen mit allen möglichen Arten von Handwaffen gespickt war. Dann machten sie sich auf den Weg zur Garage des Hauptquartiers, um sich aus dem Fuhrpark des Ordens einen Wagen zu holen.
„Sie können mich gern fragen, aber ich werde nicht atemlos auf Ihren Anruf warten“, gab Chase zurück, wobei er den Blick über die erstklassige Sammlung von Fahrzeugen wandern ließ. „Wie ich sehe, scheint der Orden finanziell gut dazustehen, auch ohne dabei auf Diebstahl im großen Stil angewiesen zu sein.“
Die riesige, hangarähnliche Garage war vollgeparkt mit hochwertigen Vehikeln – Limousinen, Nutzfahrzeugen und Motorrädern. Einige Oldtimer waren darunter, die meisten Modelle aber waren neu, jedes einzelne Fahrzeug ein Prachtstück erlesener Schönheit. Dante führte ihn zu einem brandneuen, asphaltschwarzen Porsche Cayman S und drückte auf die Fernbedienung, um die Türen zu entriegeln. Sie kletterten in das Coupe, und Chase sah sich anerkennend darin um, als Dante den Motor aufheulen ließ, den Code aktivierte, der das Tor des Hangars öffnete, und das schnittige schwarze Biest auf seinen nächtlichen Streifzug hinausfuhr.
„Der Orden scheint keinerlei Geldsorgen zu kennen“, bemerkte Chase neben Dante im schwach erleuchteten Cockpit des Porsche. Er ließ ein amüsiertes Kichern hören. „Wissen Sie, unter den Bewohnern der Dunklen Häfen ist die Vorstellung weit verbreitet, dass Sie primitive Söldner sind, die immer noch wie gesetzlose Tiere in unterirdischen Käfigen hausen.“
„Was Sie nicht sagen“, murmelte Dante und starrte auf den dunklen Straßenabschnitt, der vor ihm lag. Mit der rechten Hand öffnete er das Handschuhfach und zog einen Ledersack heraus. Er enthielt eine kleine Waffenkiste, deren Inhalt – diverse unterschiedlich große Messer, die in Scheiden steckten, eine schwere Kette und eine halbautomatische Pistole im Holster – er dem Agenten in den Schoß warf. „Machen Sie sich bereit, Harvard. Ich hoffe doch sehr, dass Sie wissen, mit welchem Ende dieser schönen Beretta 92FS Sie auf die bösen Jungs schießen müssen. Wo Sie doch aus Ihrem Paradies der Kultiviertheit in unsere niederen Gefilde herabgestiegen sind.“
Chase schüttelte den Kopf und murmelte eine Rechtfertigung. „Hören Sie, so habe ich das nicht gemeint …“
„Interessiert mich einen Dreck, was Sie gemeint haben“, erwiderte Dante und nahm eine scharfe Linkskurve um ein Kaufhaus herum, dann schnurrte der Porsche eine leere Gasse entlang. „Interessiert mich einen Dreck, was Sie von mir oder meinen Brüdern halten. Das will ich von Anfang an geklärt haben,
In den Augen des Agenten blitzte es verärgert auf, seine Wut strahlte in Wellen von ihm ab. Obwohl Dante deutlich merkte, dass der Agent es nicht gewohnt war, Befehle entgegenzunehmen – schon gar nicht von jemandem, der seiner Ansicht nach gesellschaftlich ein paar Stufen unter ihm stand –, behielt der Mann aus dem Dunklen Hafen seine Verärgerung für sich. Er steckte die Waffen ein, die Dante ihm gegeben hatte, überprüfte, ob die Pistole gesichert war, und schob sie in das lederne Brusthalfter.
Dante fuhr nach North End. Gideon hatte einen Tipp bekommen, dass dort in einem der alten Gebäude ein Rave stattfinden sollte. Jetzt, um halb acht, hatten sie noch ungefähr fünf Stunden totzuschlagen, bevor sich herausstellte, ob an diesem Tipp wirklich etwas dran war oder nicht. Aber Dante war nicht der geduldige Typ. Er saß nicht herum und wartete ab. Der Tod, dachte er, hatte schwereres Spiel mit einem, wenn man immer in Bewegung blieb.