„Soll ich das für dich auf dem Heimweg bei der Bank einwerfen?“, fragte Nora.
„Nein. Ich mach das schon. Da wir jetzt keine Patienten mehr haben, glaube ich, dass wir für heute einfach mal Feierabend machen.“ Tess steckte den Einzahlungsschein in die lederne Hülle zu den anderen. Als sie aufsah, starrte Nora sie an. „Was ist? Stimmt was nicht?“
„Ich weiß nicht. Wer zum Teufel bist du, und was hast du mit meiner arbeitswütigen Chefin angestellt?“
Tess zögerte, plötzlich fühlte sie ein Schuldgefühl in sich aufkeimen. Schließlich hätte sie noch genug Ablage zu machen, um damit einige Tage beschäftigt zu sein. Sie fragte sich, ob sie wirklich früher – mittlerweile war es sogar pünktlich – aufhören sollte.
„Ich mach doch nur Spaß“, sagte Nora, die schon um den Tresen geschossen kam, um Tess in den kleinen Vorraum hinauszuscheuchen. „Geh heim. Erhol dich. Amüsier dich mal, um Himmels willen.“
Tess nickte. Sie war so dankbar, jemanden wie Nora zu haben. „Danke. Ich weiß nicht, was ich ohne dich täte.“
„Daran erinnere dich mal, wenn bei mir die nächste Gehaltserhöhung fällig ist.“
Tess brauchte nur ein paar Minuten, um ihren Laborkittel abzustreifen, sich ihre Handtasche zu schnappen und den Computer in ihrem Büro herunterzufahren. Sie verließ die Klinik und ging in den hellen, sonnigen Nachmittag hinaus.
Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zum letzten Mal Feierabend gemacht und es zur U-Bahn geschafft hatte, bevor es dunkel wurde. Sie genoss die plötzliche Freiheit – all ihre Sinne schienen ihr lebendiger und besser aufeinander eingespielt als je zuvor – und ließ sich alle Zeit der Welt. Zur Bank schaffte sie es erst ein paar Minuten, bevor sie schloss, dann nahm sie die U-Bahn in den Stadtteil North End, nach Hause.
Ihre Wohnung war ordentlich, aber nicht weiter spektakulär – zwei Zimmer mit Bad, so nah an der Autobahn, dass das stete Rauschen des Verkehrs zu ihrem persönlichen Hintergrundgeräusch geworden war. Nicht einmal das häufige Hupen ungeduldiger Autofahrer hatte sie je wirklich gestört oder wenn unten auf der Straße vor ihrer Wohnung Bremsen kreischten.
Bis jetzt.
Tess joggte die zwei Stockwerke zu ihrer Wohnung hinauf, vom Straßenlärm dröhnte ihr der Kopf. Sie schloss hinter sich ab und lehnte sich an die Tür, warf Handtasche und Schlüssel auf einen antiken Nähmaschinentisch, den sie billig erstanden und zu einem Sideboard umfunktioniert hatte. Sie kickte ihre braunen Ledermokassins von den Füßen und schlenderte ins Wohnzimmer, um ihren Anrufbeantworter abzuhören und sich zu überlegen, was sie zu Abend essen wollte.
Ben hatte noch eine Nachricht hinterlassen. Er hatte heute Abend in North End zu tun und hoffte, dass sie nichts dagegen hätte, wenn er bei ihr vorbeischaute, um nach ihr zu sehen, vielleicht konnten sie ja in einem der nah gelegenen Pubs ein Bier zusammen trinken.
Er klang so hoffnungsvoll, so harmlos und freundlich, dass Tess’ Finger einen langen Augenblick über der Rückruftaste schwebte. Sie wollte ihn nicht ermutigen, und es war schon dumm genug, dass sie überhaupt versprochen hatte, mit ihm zu dieser Ausstellung im Museum der schönen Künste zu gehen.
Die morgen Abend stattfand, erinnerte sie sich wieder und fragte sich, ob es keine Möglichkeit gab, einen Rückzieher zu machen. Sie wollte nicht hin, aber sie würde trotzdem hingehen. Ben hatte extra Karten besorgt, weil er wusste, dass sie die Bildhauerei liebte und dass die Werke einiger ihrer Lieblingskünstler dort ausgestellt sein würden, nur für bestimmte Zeit und bei eingeschränktem Publikumsverkehr.
Es war ein sehr aufmerksames Geschenk, und Ben würde verletzt sein, wenn sie ihm jetzt absagte. Sie würde mit ihm auf die Ausstellung gehen, aber es würde das letzte Mal sein, dass sie etwas als Paar zusammen unternahmen, auch wenn sie nur gute Freunde waren.
Als sie diese Frage für sich weitgehend geklärt hatte, schaltete Tess ihren Fernseher an und stieß auf die Wiederholung einer alten Folge von „Friends“, dann wanderte sie in ihre Kochnische hinüber, um sich etwas zu essen zu suchen. Sie ging direkt ans Tiefkühlfach, ihrer üblichen Nahrungsquelle Nummer eins.
Welche orangefarbene Dose voll tiefgekühlter Langeweile würde es denn heute geben?
Abwesend schnappte Tess sich die, die ihr am nächsten lag, und riss sie auf. Als die mit Plastikfolie versiegelte Schale auf ihren Küchentisch fiel, runzelte sie die Stirn. Gott, wie war sie doch jämmerlich. Wollte sie einen ihrer so seltenen freien Abende wirklich
Tess war sich ziemlich sicher, dass es gerade nichts auf ihrem persönlichen Terminkalender gab, das sich mit Amüsement gleichsetzen ließ. Nicht für Nora jedenfalls, aber für Tess selber auch nicht.
Sie war fast sechsundzwanzig, sollte etwa so der Rest ihres Lebens aussehen?