Mein zehnter Sohn gilt als unaufrichtiger Charakter. Ich will diesen Fehler nicht ganz in Abrede stellen, nicht ganz best"atigen. Sicher ist, dass, wer ihn in der weit "uber sein Alter hinausgehenden Feierlichkeit herankommen sieht, im immer festgeschlossenen Gehrock, im alten, aber "ubersorgf"altig geputzten schwarzen Hut, mit dem unbewegten Gesicht, dem etwas vorragenden Kinn, den schwer "uber die Augen sich w"olbenden Lidern, den manchmal an den Mund gef"uhrten zwei Fingern – wer ihn so sieht, denkt: das ist ein grenzenloser Heuchler. Aber, nun h"ore man ihn reden! Verst"andig; mit Bedacht; kurz angebunden; mit boshafter Lebendigkeit Fragen durchkreuzend; in erstaunlicher, selbstverst"andlicher und froher "Ubereinstimmung mit dem Weltganzen; eine "Ubereinstimmung, die notwendigerweise den Hals strafft und den Kopf erheben l"asst. Viele, die sich sehr klug d"unken und die sich, aus diesem Grunde wie sie meinten, von seinem "Aussern abgestossen f"uhlten, hat er durch sein Wort stark angezogen. Nun gibt es aber wieder Leute, die sein "Ausseres gleichg"ultig l"asst, denen aber sein Wort heuchlerisch erscheint. Ich, als Vater, will hier nicht entscheiden, doch muss ich eingestehen, dass die letzteren Beurteiler jedenfalls beachtenswerter sind als die ersteren.
Mein elfter Sohn ist zart, wohl der schw"achste unter meinen S"ohnen; aber t"auschend in seiner Schw"ache; er kann n"amlich zu Zeiten kr"aftig und bestimmt sein, doch ist allerdings selbst dann die Schw"ache irgendwie grundlegend. Es ist aber keine besch"amende Schw"ache, sondern etwas, das nur auf diesem unsern Erdboden als Schw"ache erscheint. Ist nicht zum Beispiel auch Flugbereitschaft Schw"ache, da sie doch Schwanken und Unbestimmtheit und Flattern ist? Etwas Derartiges zeigt mein Sohn. Den Vater freuen nat"urlich solche Eigenschaften nicht; sie gehen ja offenbar auf Zerst"orung der Familie aus. Manchmal blickt er mich an, als wollte er mir sagen: »Ich werde dich mitnehmen, Vater.« Dann denke ich: »Du w"arst der Letzte, dem ich mich vertraue.« Und sein Blick scheint wieder zu sagen: »Mag ich also wenigstens der Letzte sein.«
Das sind die elf S"ohne.
12. EIN BRUDERMORD
Es ist erwiesen, dass der Mord auf folgende Weise erfolgte:
Schmar, der M"order, stellte sich gegen neun Uhr abends in der mondklaren Nacht an jener Strassenecke auf, wo Wese, das Opfer, aus der Gasse, in welcher sein Bureau lag, in jene Gasse einbiegen musste, in der er wohnte.
Kalte, jeden durchschauernde Nachtluft. Aber Schmar hatte nur ein d"unnes blaues Kleid angezogen; das R"ockchen war "uberdies aufgekn"opft. Er f"uhlte keine K"alte; auch war er immerfort in Bewegung. Seine Mordwaffe, halb Bajonett, halb K"uchenmesser, hielt er ganz blossgelegt immer fest im Griff. Betrachtete das Messer gegen das Mondlicht; die Schneide blitzte auf; nicht genug f"ur Schmar; er hieb mit ihr gegen die Backsteine des Pflasters, dass es Funken gab; bereute es vielleicht; und um den Schaden gut zu machen, strich er mit ihr violinbogenartig "uber seine Stiefelsohle, w"ahrend er, auf einem Bein stehend, vorgebeugt, gleichzeitig dem Klang des Messers an seinem Stiefel, gleichzeitig in die schicksalsvolle Seitengasse lauschte.
Warum duldete das alles der Private Pallas, der in der N"ahe aus seinem Fenster im zweiten Stockwerk alles beobachtete? Ergr"unde die Menschennatur! Mit hochgeschlagenem Kragen, den Schlafrock um den weiten Leib geg"urtet, kopfsch"uttelnd, blickte er hinab.
Und f"unf H"auser weiter, ihm schr"ag gegen"uber, sah Frau Wese, den Fuchspelz "uber ihrem Nachthemd,nach ihrem Manne aus, der heute ungew"ohnlich lange z"ogerte.
Endlich ert"ont die T"urglocke vor Weses Bureau, zu laut f"ur eine T"urglocke, "uber die Stadt hin, zum Himmel auf, und Wese, der fleissige Nachtarbeiter, tritt dort, in dieser Gasse noch unsichtbar, nur durch das Glockenzeichen angek"undigt, aus dem Haus; gleich z"ahlt das Pflaster seine ruhigen Schritte.
Pallas beugt sich weit hervor; er darf nichts vers"aumen. Frau Wese schliesst, beruhigt durch die Glocke, klirrend ihr Fenster. Schmar aber kniet nieder; da er augenblicklich keine anderen Bl"ossen hat, dr"uckt er nur Gesicht und H"ande gegen die Steine; wo alles friert, gl"uht Schmar.
Gerade an der Grenze, welche die Gassen scheidet, bleibt Wese stehen, nur mit dem Stock st"utzt er sich in die jenseitige Gasse. Eine Laune. Der Nachthimmel hat ihn angelockt, das Dunkelblaue und das Goldene. Unwissend blickt er es an, unwissend streicht er das Haar unter dem gel"upften Hut; nichts r"uckt dort oben zusammen, um ihm die allern"achste Zukunft anzuzeigen; alles bleibt an seinem unsinnigen, unerforschlichen Platz. An und f"ur sich sehr vern"unftig, dass Wese weitergeht, aber er geht ins Messer des Schmar.