Dieses allerdings geh"orte schon zu den vom Hungern "uberhaupt nicht zu trennenden Verd"achtigungen. Niemand war ja imstande, alle die Tage und N"achte beim Hungerk"unstler ununterbrochen als W"achter zu verbringen, niemand also konnte aus eigener Anschauung wissen, ob wirklich ununterbrochen, fehlerlos gehungert worden war; nur der Hungerk"unstler selbst konnte das wissen, nur er also gleichzeitig der von seinem Hungern vollkommen befriedigte Zuschauer sein. Er aber war wieder aus einem andern Grunde niemals befriedigt; vielleicht war er gar nicht vom Hungern so sehr abgemagert, dass manche zu ihrem Bedauern den Vorf"uhrungen fernbleiben mussten, weil sie seinen Anblick nicht ertrugen, sondern er war nur so abgemagert aus Unzufriedenheit mit sich selbst. Er allein n"amlich wusste, auch kein Eingeweihter sonst wusste das, wie leicht das Hungern war. Es war die leichteste Sache von der Welt. Er verschwieg es auch nicht, aber man glaubte ihm nicht, hielt ihn g"unstigstenfalls f"ur bescheiden, meist aber f"ur reklames"uchtig oder gar f"ur einen Schwindler, dem das Hungern allerdings leicht war, weil er es sich leicht zu machen verstand, und der auch noch die Stirn hatte, es halb zu gestehn. Das alles musste er hinnehmen, hatte sich auch im Laufe der Jahre daran gew"ohnt, aber innerlich nagte diese Unbefriedigtheit immer an ihm, und noch niemals, nach keiner Hungerperiode – dieses Zeugnis musste man ihm ausstellen – hatte er freiwillig den K"afig verlassen. Als H"ochstzeit f"ur das Hungern hatte der Impresario vierzig Tage festgesetzt, dar"uber hinaus liess er niemals hungern, auch in den Weltst"adten nicht, und zwar aus gutem Grund. Vierzig Tage etwa konnte man erfahrungsgem"ass durch allm"ahlich sich steigernde Reklame das Interesse einer Stadt immer mehr aufstacheln, dann aber versagte das Publikum, eine wesentliche Abnahme des Zuspruchs war festzustellen; es bestanden nat"urlich in dieser Hinsicht kleine Unterschiede zwischen den St"adten und L"andern, als Regel aber galt, dass vierzig Tage die H"ochstzeit war. Dann also am vierzigsten Tage wurde die T"ur des mit Blumen umkr"anzten K"afigs ge"offnet, eine begeisterte Zuschauerschaft erf"ullte das Amphitheater, eine Milit"arkapelle spielte, zwei "Arzte betraten den K"afig, um die n"otigen Messungen am Hungerk"unstler vorzunehmen, durch ein Megaphon wurden die Resultate dem Saale verk"undet, und schliesslich kamen zwei junge Damen, gl"ucklich dar"uber, dass gerade sie ausgelost worden waren, und wollten den Hungerk"unstler aus dem K"afig ein paar Stufen hinabf"uhren, wo auf einem kleinen Tischchen eine sorgf"altig ausgew"ahlte Krankenmahlzeit serviert war. Und in diesem Augenblick wehrte sich der Hungerk"unstler immer. Zwar legte er noch freiwillig seine Knochenarme in die hilfsbereit ausgestreckten H"ande der zu ihm hinabgebeugten Damen, aber aufstehen wollte er nicht. Warum gerade jetzt nach vierzig Tagen aufh"oren? Er h"atte es noch lange, unbeschr"ankt lange ausgehalten; warum gerade jetzt aufh"oren, wo er im besten, ja noch nicht einmal im besten Hungern war? Warum wollte man ihn des Ruhmes berauben, weiter zu hungern, nicht nur der gr"osste Hungerk"unstler aller Zeiten zu werden, der er ja wahrscheinlich schon war, aber auch noch sich selbst zu "ubertreffen bis ins Unbegreifliche, denn f"ur seine F"ahigkeit zu hungern f"uhlte er keine Grenzen. Warum hatte diese Menge, die ihn so sehr zu bewundern vorgab, so wenig Geduld mit ihm; wenn er es aushielt, noch weiter zu hungern, warum wollte sie es nicht aushalten? Auch war er m"ude, sass gut im Stroh und sollte sich nun hoch und lang aufrichten und zu dem Essen gehn, das ihm schon allein in der Vorstellung "Ubelkeiten verursachte, deren "Ausserung er nur mit R"ucksicht auf die Damen m"uhselig unterdr"uckte. Und er blickte empor in die Augen der scheinbar so freundlichen, in Wirklichkeit so grausamen Damen und sch"uttelte den auf dem schwachen Halse "uberschweren Kopf. Aber dann geschah, was immer geschah. Der Impresario kam, hob stumm – die Musik machte das Reden unm"oglich – die Arme "uber dem Hungerk"unstler, so, als lade er den Himmel ein, sich sein Werk hier auf dem Stroh einmal anzusehn, diesen bedauernswerten M"artyrer, welcher der Hungerk"unstler allerdings war, nur in ganz anderem Sinn; fasste den Hungerk"unstler um die d"unne Taille, wobei er durch "ubertriebene Vorsicht glaubhaft machen wollte, mit einem wie gebrechlichen Ding er es hier zu tun habe; und "ubergab ihn – nicht ohne ihn im geheimen ein wenig zu sch"utteln, so dass der Hungerk"unstler mit den Beinen und dem Oberk"orper unbeherrscht hin und her schwankte – den inzwischen totenbleich gewordenen Damen. Nun duldete der Hungerk"unstler alles; der Kopf lag auf der Brust, es war, als sei er hingerollt und halte sich dort unerkl"arlich; der Leib war ausgeh"ohlt; die Beine dr"uckten sich im Selbsterhaltungstrieb fest in den Knien aneinander, scharrten aber doch den Boden, so, als sei es nicht der wirkliche, den wirklichen suchten sie erst; und die ganze, allerdings sehr kleine Last des K"orpers lag auf einer der Damen, welche hilfesuchend, mit fliegendem Atem – so hatte sie sich dieses Ehrenamt nicht vorgestellt – zuerst den Hals m"oglichst streckte, um wenigstens das Gesicht vor der Ber"uhrung mit dem Hungerk"unstler zu bewahren, dann aber, da ihr dies nicht gelang und ihre gl"ucklichere Gef"ahrtin ihr nicht zu Hilfe kam, sondern sich damit begn"ugte, zitternd die Hand des Hungerk"unstlers, dieses kleine Knochenb"undel, vor sich herzutragen, unter dem entz"uckten Gel"achter des Saales in Weinen ausbrach und von einem l"angst bereitgestellten Diener abgel"ost werden musste. Dann kam das Essen, von dem der Impresario dem Hungerk"unstler w"ahrend eines ohnmacht"ahnlichen Halbschlafes ein wenig einfl"osste, unter lustigem Plaudern, das die Aufmerksamkeit vom Zustand des Hungerk"unstlers ablenken sollte; dann wurde noch ein Trinkspruch auf das Publikum ausgebracht, welcher dem Impresario angeblich vom Hungerk"unstler zugefl"ustert worden war; das Orchester bekr"aftigte alles durch einen grossen Tusch, man ging auseinander, und niemand hatte das Recht, mit dem Gesehenen unzufrieden zu sein, niemand, nur der Hungerk"unstler, immer nur er.