So lebte er mit regelm"assigen kleinen Ruhepausen viele Jahre, in scheinbarem Glanz, von der Welt geehrt, bei alledem aber meist in tr"uber Laune, die immer noch tr"uber wurde dadurch, dass niemand sie ernst zu nehmen verstand. Womit sollte man ihn auch tr"osten? Was blieb ihm zu w"unschen "ubrig? Und wenn sich einmal ein Gutm"utiger fand, der ihn bedauerte und ihm erkl"aren wollte, dass seine Traurigkeit wahrscheinlich von dem Hungern k"ame, konnte es, besonders bei vorgeschrittener Hungerzeit, geschehn, dass der Hungerk"unstler mit einem Wutausbruch antwortete und zum Schrecken aller wie ein Tier an dem Gitter zu r"utteln begann. Doch hatte f"ur solche Zust"ande der Impresario ein Strafmittel, das er gern anwandte. Er entschuldigte den Hungerk"unstler vor versammeltem Publikum, gab zu, dass nur die durch das Hungern hervorgerufene, f"ur satte Menschen nicht ohne weiteres begreifliche Reizbarkeit das Benehmen des Hungerk"unstlers verzeihlich machen k"onne; kam dann im Zusammenhang damit auch auf die ebenso zu erkl"arende Behauptung des Hungerk"unstlers zu sprechen, er k"onnte noch viel l"anger hungern, als er hungere; lobte das hohe Streben, den guten Willen, die grosse Selbstverleugnung, die gewiss auch in dieser Behauptung enthalten seien; suchte dann aber die Behauptung einfach genug durch Vorzeigen von Photographien, die gleichzeitig verkauft wurden, zu widerlegen, denn auf den Bildern sah man den Hungerk"unstler an einem vierzigsten Hungertag, im Bett, fast verl"oscht vor Entkr"aftung. Diese dem Hungerk"unstler zwar wohlbekannte, immer aber von neuem ihn entnervende Verdrehung der Wahrheit war ihm zu viel. Was die Folge der vorzeitigen Beendigung des Hungerns war, stellte man hier als die Ursache dar! Gegen diesen Unverstand, gegen diese Welt des Unverstandes zu k"ampfen, war unm"oglich. Noch hatte er immer wieder in gutem Glauben begierig am Gitter dem Impresario zugeh"ort, beim Erscheinen der Photographien aber liess er das Gitter jedesmal los, sank mit Seufzen ins Stroh zur"uck, und das beruhigte Publikum konnte wieder herankommen und ihn besichtigen.
Wenn die Zeugen solcher Szenen ein paar Jahre sp"ater daran zur"uckdachten, wurden sie sich oft selbst unverst"andlich. Denn inzwischen war jener erw"ahnte Umschwung eingetreten; fast pl"otzlich war das geschehen; es mochte tiefere Gr"unde haben, aber wem lag daran, sie aufzufinden; jedenfalls sah sich eines Tages der verw"ohnte Hungerk"unstler von der vergn"ugungss"uchtigen Menge verlassen, die lieber zu anderen Schaustellungen str"omte. Noch einmal jagte der Impresario mit ihm durch halb Europa, um zu sehn, ob sich nicht noch hie und da das alte Interesse wiederf"ande; alles vergeblich; wie in einem geheimen Einverst"andnis hatte sich "uberall geradezu eine Abneigung gegen das Schauhungern ausgebildet. Nat"urlich hatte das in Wirklichkeit nicht pl"otzlich so kommen k"onnen, und man erinnerte sich jetzt nachtr"aglich an manche zu ihrer Zeit im Rausch der Erfolge nicht gen"ugend beachtete, nicht gen"ugend unterdr"uckte Vorboten, aber jetzt etwas dagegen zu unternehmen, war zu sp"at. Zwar war es sicher, dass einmal auch f"ur das Hungern wieder die Zeit kommen werde, aber f"ur die Lebenden war das kein Trost. Was sollte nun der Hungerk"unstler tun? Der, welchen Tausende umjubelt hatten, konnte sich nicht in Schaubuden auf kleinen Jahrm"arkten zeigen, und um einen andern Beruf zu ergreifen, war der Hungerk"unstler nicht nur zu alt, sondern vor allem dem Hungern allzu fanatisch ergeben. So verabschiedete er denn den Impresario, den Genossen einer Laufbahn ohnegleichen, und liess sich von einem grossen Zirkus engagieren; um seine Empfindlichkeit zu schonen, sah er die Vertragsbedingungen gar nicht an.
Ein grosser Zirkus mit seiner Unzahl von einander immer wieder ausgleichenden und erg"anzenden Menschen und Tieren und Apparaten kann jeden und zu jeder Zeit gebrauchen, auch einen Hungerk"unstler, bei entsprechend bescheidenen Anspr"uchen nat"urlich, und ausserdem war es ja in diesem besonderen Fall nicht nur der Hungerk"unstler selbst, der engagiert wurde, sondern auch sein alter ber"uhmter Name, ja man konnte bei der Eigenart dieser im zunehmenden Alter nicht abnehmenden Kunst nicht einmal sagen, dass ein ausgedienter, nicht mehr auf der H"ohe seines K"onnens stehender K"unstler sich in einen ruhigen Zirkusposten fl"uchten wolle, im Gegenteil, der Hungerk"unstler versicherte, dass er, was durchaus glaubw"urdig war, ebensogut hungere wie fr"uher, ja er behauptete sogar, er werde, wenn man ihm seinen Willen lasse, und dies versprach man ihm ohne weiteres, eigentlich erst jetzt die Welt in berechtigtes Erstaunen setzen, eine Behauptung allerdings, die mit R"ucksicht auf die Zeitstimmung, welche der Hungerk"unstler im Eifer leicht vergass, bei den Fachleuten nur ein L"acheln hervorrief.