Auch die Mediziner müssen sich Kritik gefallen lassen. Man hört von Ärzten, die unnötige Operationen und andere Behandlungen durchführen, nur um ihr Konto aufzufüllen; die Tests bei Labors machen lassen, die ihnen Provisionen zukommen lassen; und die bevorzugt bestimmte Untersuchungen empfehlen, weil sie zufällig die Apparate dafür haben. Und wie steht es mit dem Einfluss der Pharmaindustrie? Ein Freund erzählte mir, er habe letztens beim Arzt eine geschlagene Stunde warten müssen. In dieser Zeit seien vier Pharmareferenten ins Sprechzimmer spaziert.
Wenn man näher hinsieht, entdeckt man bei nahezu jeder Berufsgruppe ähnliche Probleme. Nehmen wir einmal die Ölgeologen. In meiner Vorstellung sind das Indiana-Jones-Typen, die sich weit mehr für Juraschiefer und Deltasedimente interessieren als dafür, Geld zu machen. Aber man braucht nur ein wenig genauer hinzusehen, schon stößt man auf Probleme. »Es gibt unethisches Verhalten in weit größerem Maß, als die meisten von uns wahrhaben möchten«, schrieb ein Mitglied des Berufsverbandes an seine Kollegen.20
Welche Art Unehrlichkeit, um Himmels willen, kann denn unter Ölgeologen grassieren, fragen Sie. Offenbar Dinge wie die Verwendung illegal beschaffter seismischer und digitaler Daten; der Diebstahl von Landkarten und Materialien; und die übertrieben positive Darstellung eventueller Ölvorkommen in Fällen, wo ein Landverkauf oder Investitionen anstehen. »Es sind eher Gesetzwidrigkeiten im Graubereich als handfeste Straftaten«, kommentierte ein Ölgeologe.
Doch es sind nicht allein die Ölgeologen, das sollten wir nicht vergessen. Wohin man blickt, fällt einem diese Erosion des Professionalismus ins Auge. Wenn Ihnen die Beweise noch nicht genügen, brauchen Sie nur an die Debatte unter den Berufsethikern selbst zu denken, die häufiger als je zuvor – von der einen oder anderen Partei engagiert – als Sachverständige bei öffentlichen Anhörungen und Prozessen hinzugezogen werden, wenn es um eine bestimmte medizinische Behandlung oder die Rechte des ungeborenen Lebens geht. Sind sie geneigt, der Versuchung nachzugeben? Offenbar ja. »Ethischer Sachverstand: Die Berufsethiker haben ein Problem mit ihrem Berufsethos«, so der Titel eines Artikels in einem Fachblatt.21
Wie ich schon sagte, wohin man blickt, fallen einem Zeichen ethischen Schwunds ins Auge.Was tun? Nehmen wir einmal an, wir würden uns nicht auf die Zehn Gebote berufen, sondern es uns zur Regel machen, unseren Namen unter irgendeine säkulare Erklärung zu setzen – ähnlich einem Berufseid –, die uns an unsere Verpflichtung zur Ehrlichkeit gemahnt. Würde ein schlichter Eid etwas ändern, wie wir es bei den Zehn Geboten erlebt haben? Dieser Frage galt unser nächstes Experiment.
Wieder einmal stellten wir verschiedene Versuchsgruppen zusammen, dieses Mal am MIT. Die Teilnehmer der ersten Gruppe machten unseren Mathematiktest und übergaben ihre Antwortblätter dem Versuchsleiter vorne (der zählte, wie viele Fragen sie korrekt beantwortet hatten, und sie entsprechend bezahlte). Die zweite Gruppe machte den Test ebenfalls, behielt ihre Antwortblätter jedoch danach gefaltet bei sich und teilte dem Versuchsleiter lediglich mit, wie viele Aufgaben sie gelöst hatten. Dieser bezahlte sie entsprechend, und die Teilnehmer verließen den Raum.
Der neue Aspekt unseres Experiments kam bei der dritten Gruppe zum Tragen. Ehe diese Probanden sich an den Test machten, wurden sie gebeten, folgende Erklärung auf dem Antwortblatt zu unterschreiben: »Mir ist bekannt, dass diese Studie unter den Ehrenkodex des MIT fällt.« Nachdem sie diese Erklärung unterzeichnet hatten, begannen sie mit den Aufgaben. Nach Ablauf der zur Verfügung stehenden Zeit steckten sie ihre Antwortblätter in die Tasche, gingen zum Versuchsleiter vor, sagten ihm, wie viele Aufgaben sie richtig gelöst hatten, und wurden entsprechend bezahlt.
Wie sah das Ergebnis aus? Die Probanden der Kontrollgruppe, bei der ein Betrug nicht möglich war, lösten durchschnittlich drei Aufgaben. Die zweite Gruppe, in der die Teilnehmer ihre Antwortblätter einstecken konnten, löste im Durchschnitt 5,5 Aufgaben. Bemerkenswert war das Ergebnis bei der dritten Gruppe, in der die Probanden ihre Antwortblätter zwar einsteckten, aber auch die Ehrenerklärung unterschrieben hatten. Hier wurden durchschnittlich drei Aufgaben gelöst – exakt so viele wie bei unserer Kontrollgruppe. Ein fast identisches Resultat erzielten wir mit den Zehn Geboten. Dass die Unterzeichnung einer derartigen Erklärung eine solche Wirkung hat, ist erstaunlich, insbesondere wenn man in Betracht zieht, dass es am MIT gar keinen Ehrenkodex gibt.