Sigmund Freud erklärte sie folgendermaßen: Mit dem Aufwachsen in der Gesellschaft verinnerlichen wir ihre sozialen Werte. Diese Verinnerlichung führt zur Entwicklung des Über-Ich. Im Allgemeinen ist das Über-Ich zufrieden, wenn wir uns an die ethischen Grundsätze der Gesellschaft halten, und unzufrieden, wenn wir das nicht tun. Deshalb bleiben wir auch um vier Uhr nachts vor einer roten Ampel stehen, selbst wenn weit und breit niemand zu sehen ist; und deshalb durchströmt uns ein gutes Gefühl, wenn wir dafür sorgen, dass eine Brieftasche, die wir gefunden haben, zum Eigentümer zurückkehrt, selbst wenn er nie erfährt, wer der ehrliche Finder war. Ein solches Verhalten stimuliert die Belohnungszentren in unserem Gehirn – den Nucleus accumbens und den Nucleus caudatus – und macht uns zufrieden.
Aber wenn uns Ehrlichkeit wichtig ist – bei einer kürzlich an fast 36 000 amerikanischen Highschool-Schülern durchgeführten Studie gaben 98 Prozent an, dass Ehrlichkeit wichtig ist –, wenn sie uns ein gutes Gefühl vermittelt, warum sind wir dann so häufig unehrlich?
Meiner Auffassung nach verhält es sich damit folgendermaßen. Ehrlichkeit liegt uns am Herzen, und wir möchten ehrlich sein. Das Problem ist, dass unser inneres Ehrlichkeits-Kontrollorgan nur aktiv ist, wenn wir daran denken, einen großen Verstoß zu begehen, zum Beispiel einen ganzen Karton Stifte aus dem Konferenzzimmer einzustecken. Bei dem kleinen Verstoß, beispielsweise einen oder zwei Stifte mitzunehmen, verschwenden wir keinen Gedanken daran, wie diese Handlung mit unserer Ehrlichkeit in Einklang zu bringen ist, und deshalb bleibt unser Über-Ich stumm.
Ohne die Unterstützung des Über-Ichs, das über unsere Ehrlichkeit wacht, können wir uns gegen diese Art von Verstoß nur mit einer rationalen Kosten-Nutzen-Analyse wehren. Aber wer wägt schon bewusst den Nutzen eines aus dem Hotelzimmer mitgenommenen Handtuchs gegen die Kosten ab, dabei ertappt zu werden? Wer überdenkt Kosten und Nutzen, wenn er bei der Steuererklärung ein paar Quittungen dazuschmuggelt? Wie das Experiment in Harvard zeigte, scheinen die Kosten-Nutzen-Analyse und insbesondere das Risiko, erwischt zu werden, nicht viel Einfluss auf unsere Unehrlichkeit zu haben.
So ist der Lauf der Welt. Man kann fast keine Zeitung aufschlagen, ohne auf einen Bericht über unehrliches oder betrügerisches Handeln zu stoßen. Wir erleben, wie die Kreditkartenunternehmen ihre Kunden mit horrenden Überziehungszinsen aussaugen; wie Fluglinien durch Missmanagement bankrottgehen und dann nach dem Staat rufen, damit er ihnen – und ihren unterfinanzierten Pensionsfonds – aus der Bredouille hilft; wie Schulen das Aufstellen von Getränkeautomaten verteidigen (und von den Getränkeherstellern Millionen kassieren), obwohl hinlänglich bekannt ist, dass zuckerhaltige Getränke Kinder hyperaktiv und dick machen. Die Steuern sind ein Festival schwindender Moral, wie der kenntnisreiche und talentierte Journalist David Cay Johnston von der
All das versucht die Gesellschaft durch staatliche Maßnahmen zu bekämpfen, was ihr in einigen Fällen zumindest ansatzweise auch gelingt. Das Sarbanes-Oxley-Gesetz von 2002 (nach dem sich die Vorstände von Aktiengesellschaften mit ihrer Unterschrift für die Berichte und Bilanzen des Unternehmens verbürgen müssen und für nachweisliche Verfehlungen herangezogen werden) wurde verabschiedet, damit solche Debakel wie bei Enron in Zukunft ausgeschlossen sind. Auch hat der Kongress Beschränkungen für die Zweckbestimmung von Zuwendungen geschaffen (insbesondere was politisch motivierte Zuwendungen an örtliche Verwaltungen betrifft, die Politiker in größeren Posten des Bundes verstecken). Die Börsenaufsicht hat sogar Vorschriften zur weitergehenden Offenlegung der Gehälter und Vergünstigungen von Managern erlassen – wenn eine Stretchlimousine an uns vorbeifährt, wissen wir also jetzt ziemlich genau, wie hoch das Gehalt des Topmanagers im Fond ist.
Aber können diese Maßnahmen von außen wirklich alle Löcher stopfen und betrügerisches Verhalten verhindern? Manche Kritiker sagen: nein. Nehmen wir beispielsweise die Ethikreform im amerikanischen Kongress. Nach den Statuten ist es Lobbyisten untersagt, Kongressabgeordnete und ihre Mitarbeiter bei »allgemeinen« Anlässen zu bewirten. Was also machen die Lobbyisten? Sie laden die Abgeordneten zu Essen mit »begrenzter« Gästeliste ein, um diese Vorschrift zu umgehen. Ebenso ist es Lobbyisten nach den neuen Ethikregeln verboten, Abgeordnete zu Flügen in »Starrflügelflugzeugen« einzuladen. Na, dann nehmen wir doch den Hubschrauber!