Scott trat auf den Landesteg hinaus, blieb am Rand stehen und starrte in das aufgewühlte Wasser. Unwillkürlich versuchte er sich auszumalen, wie es wäre, ins Wasser einzutauchen, sich bis zu den Zehen zu strecken und in hohem Bogen hineinzuspringen ... Dabei wurde ihm so schwindelig, dass er sich schnell wieder auf festen Boden zurückziehen musste.
Er nahm am Picknicktisch Platz, legte die Füße auf die Bank, stützte das Gesicht in die Hände und schaukelte in stiller Qual vor und zurück. Der Gedanke, seiner Frau und seiner Tochter könne etwas zugestoßen sein, war ihm unerträglich, erfüllte ihn mit ohnmächtiger Angst ... nein, etwas noch Stärkerem. Seitdem er diese Zeichnungen entdeckt hatte, die möglicherweise mit seiner Familie zu tun hatten, war Scott ein einziges Nervenbündel, ging auf Schatten los, malte sich katastrophale Szenen aus, die er nicht verdrängen konnte. Nachts hatte er sich sogar in etwas hineingesteigert, das er für eine von Übermüdung und Stress verursachte Halluzination hielt: Im flackernden Widerschein des Blitzes war es ihm so vorgekommen, als sei Kaths Puppe aufgeschlitzt worden und voller Blut. Jede Minute, die verstrich, ohne dass Krista anrief, bestärkte ihn in der Gewissheit, dass der Alte Recht gehabt hatte und ein Unfall passiert sein musste ... ein schlimmer Unfall. Ihm war kalt, er fühlte sich so leer und ausgehöhlt wie die Fässer, die unter dem Anlegesteg trieben.
Während er in der seltsam aufgeladenen Luft herumsaß, hörte er irgendwann eine Möwe mit so klagender Stimme schreien, dass sie beunruhigend menschlich klang. Als sich Scott zu dem Geräusch in seinem Rücken umdrehte - in seiner Müdigkeit hatte er sich ausgemalt, Kath habe sich aus Spaß an ihn herangeschlichen sah er, dass der grauweiße Vogel auf einem Felsen thronte, eine Elritze ausweidete und ihn mit den gelben Augen gleichzeitig argwöhnisch beobachtete. Voller Wut darüber, dass die Möwe ihn unwissentlich derart hereingelegt hatte, schwenkte er die Arme, bis sie davonflog. Während sie sich in die Lüfte schwang, verfolgte ihn ihr Geschrei wie hämisches Gelächter.
Scott schossen Tranen in die Augen, sein Blick verschwamm. Dennoch fielen ihm auf dem Boden nahe am Anlegesteg zwei seltsame rosafarbene Streifen auf. Als er näher hinsah, merkte er, dass es sich um Haarklammern handelte, die Krista gehörten. Gleich darauffiel ihm ein, dass sie die Klammern aus ihrem Haar gelöst hatte, als sie vor einigen Wochen mit ihm zusammen nackt im See gebadet hatte. Später hatte sie die Suche danach aufgegeben. Scott lächelte, während er die Klammern aufhob. Er nahm sie mit zum Tisch und rief sich dabei alle intimen Einzelheiten jener warmen Nacht ins Gedächtnis zurück.
Es war ein Samstag gewesen. Da Kath bei einer Freundin übernachtete, hatten Krista und er das Wochenende ganz für sich gehabt. Sie waren unten am Bootssteg gewesen, hatten sich ein bisschen betrunken und herumgealbert, bis Krista schließlich vorschlug, schwimmen zu gehen, und sich auszuziehen begann. Scott erinnerte sich noch deutlich an ihre blassen, vorgewölbten Brüste, die sich im körnigen Zwielicht des Mondes so erotisch von der ansonsten gebräunten Haut abgehoben hatten. Ebenso deutlich erinnerte er sich an die vage, Schwindel erregende Angst davor, bei Nacht zu schwimmen, ein Gefühl, das den Nervenkitzel noch erhöhte.
Sofort folgte auf diese Erinnerung eine andere. Seltsamerweise fiel ihm ein, wie Kath mit fünf Jahren einen Eiswürfel verschluckt hatte und fast daran erstickt wäre. Als erlebe sein Gehirn eine Art Kettenreaktion, führte eine Erinnerung zur nächsten. Es dauerte nicht lange, bis ihm eine ganze Kaskade von Erinnerungssplittern in schneller Abfolge durch den Kopf