Einige Zeit später verließ Scott völlig erschöpft und zutiefst deprimiert die Intensivstation. Irgendwann war Kath schließlich in den Schlaf hinübergeglitten. Anfangs war Scott sehr beunruhigt gewesen, da er fürchtete, sie werde erneut ins Koma, in den Zustand der Katatonie, oder was immer es gewesen sein mochte, fallen. Aber als er feststellte, dass sie auf Reize mühelos reagierte, beschloss er, sie schlafen zu lassen. Zumindest für Kath gab es diese Fluchtmöglichkeit
Doch dann fiel ihm ein, dass sie das Schicksal ihrer Mutter im Traum vorhergesehen hatte, wie sie ihm erzählt hatte, und ihm wurde klar, dass keiner von ihnen der Wahrheit entkommen konnte. Sie würden sich Kristas Tod stellen müssen, genau wie dem eigenen.
Ja, Krista war tot, das begriff er jetzt. Und sprach es in der gottverlassenen Stille des Aufenthaltsraums auf der Intensivstation laut aus: »Krista ist tot.« Kaths Frage hatte ihm diese Tatsache auf brutale Weise deutlich gemacht und das Schutzschild der Leugnung, unter das er sich zurückgezogen hatte, so gewaltsam zertrümmert wie eine Spitzhacke, die Glas zerschlägt. Die Wahrheit traf ihn jetzt mit aller Schärfe, schnitt in sein Innerstes, aber er würde daran nicht sterben. Denn jetzt gab es Dinge, die er erledigen musste, Dinge, die rationale Überlegung und peinlich genaue Planung verlangten. All die Dinge, die Holley ihn am frühen Morgen zu erledigen gedrängt hatte. Die Pflichten, die ein Todesfall mit sich brachte.
Er würde sich um die Bestattung seiner Frau kümmern müssen. Gott ja, die Bestattung. Er würde damit ein Beerdigungsinstitut in Ottawa beauftragen müssen, das auch Einäscherungen veranlasste. Krista hatte sich eine Feuerbestattung gewünscht. Vor vielen Jahren hatte sie diesen Wunsch irgendwann nachts geäußert, ein, zwei Wochen nach der Beerdigung seiner Eltern. In jener Nacht war Scott wegen eines heftigen Sommergewitters aufgewacht und hatte Krista auf einem Stuhl am Fenster entdeckt, wo sie mit leerem Blick auf das Schauspiel am Himmel starrte. Damals hatte sie ihm von der Angst erzählt, die sie seit dem Tod ihres Vaters mit sich herumschleppte.
Ihr Vater war an Krebs gestorben, als sie noch ein kleines Mädchen war. Während sie bei der Totenwache vor seinem Sarg kniete, hatte sich Krista gefragt, ob das Wesen ihres Vaters - seine Seele - immer noch in seinem Körper gefangen sei. »Wie soll sie da herauskommen?«, hatte sie Scott in jener Nacht im Schlafzimmer ihrer gemeinsamen Wohnung in der Frank Street gefragt, als habe sie das Dilemma des kleinen Mädchens noch immer nicht gelöst.
Beim Tod ihres Vaters war sie acht Jahre alt gewesen. Ihre kindliche Fantasie hatte sie auf den eigentlich ganz natürlichen Gedanken gebracht, ihr Daddy müsse wohl immer noch in seinem Körper stecken und alles mitbekommen, könne es aber niemandem erzählen, da dieser Körper ja tot war. Wie nur ein Kind es vermag, hatte sie sich ausgemalt, wie er nach dem Trauergottesdienst hilflos in dem mit Satin ausgekleideten Sarg liegen würde. Bestimmt würde er hören, wie der Deckel klickend einrastete, wenn der Leichenbestatter den Sarg zum letzten Mal verschloss, bestimmt würde er merken, wie ihn ewige Dunkelheit umfing. Sie stellte sich vor, wie ihn die Sargträger später auf die Schulter hieven und auf dem Weg zum Grab durchschütteln würden. Während sie den Sarg langsam in die Grube senkten, würde er gedämpft verschiedene Geräusche wahrnehmen: die Psalmen und Gebete des Gemeindepfarrers, das dumpfe Aufschlagen der Erde auf dem Sargdeckel, wenn der Totengräber mit dem Spaten kam. Nach und nach würden diese Geräusche verstummen ... Und schließlich würde Stille eintreten, ewige Stille. Nur das fast lautlose Werk der Zeit, die Verwesung mit sich brachte, würde diese Stille stören.
Als erwachsene Frau war Krista zu dem Schluss gekommen, dass sie anders von dieser Erde scheiden wollte. Lieber wollte sie, dass sich ihre Seele in einem alles vernichtenden Feuer aus dem Körper löste. Die Alternative kam ihr noch unheimlicher vor, denn dabei musste sie darauf vertrauen, dass Erde und Verwesung nach und nach ihr grausames Werk verrichten und die Seele freisetzen würden. (Falls es denn eine Seele gab; Krista war sich darüber nie ganz schlüssig geworden.)
So sehr Kristas unerwartete Auslassungen über den Tod Scott auch beunruhigt hatten - wie die meisten Menschen hatte er stets geglaubt, seiner Familie und ihm selbst könne niemals etwas zustoßen, wie ihm jetzt klar wurde -, hatte er eingewilligt: Sollte sie vor ihm sterben, würde er sie einäschern lassen. Es war ihm mehr darum gegangen, das Thema abzuschließen, als eine verbindliche Abmachung mit Krista zu treffen. Doch jetzt würde er sein Versprechen einlösen müssen.
»Kann ich irgendwo telefonieren?«, fragte er eine der Krankenschwestern an den Überwachungsgeräten. »Ich muss einige Ferngespräche führen.«