Die Schwester nickte, wobei sich ihr Gesicht aufhellte. Scott kam es so vor, als sei sie irgendwie erleichtert, was er zunächst befremdlich fand. Doch gleich darauf glaubte er zu verstehen. Seine Erfahrung als Arzt sagte ihm, dass bei der Besprechung, die der Stationsübergabe bei Schichtwechsel vorherging, vermutlich sein Name gefallen war, weil sich das Personal Sorgen um ihn machte. Diese Mädchen hatten in ihrer Ausbildung gelernt, bei betroffenen Familienangehörigen darauf zu achten, ob sie Anzeichen für die Bewältigung der traumatischen Situation zeigten. Bestimmt war ihnen aufgefallen, dass Scott es bislang kaum geschafft hatte,
Die Schwester brachte ihn zu dem Angehörigenzimmer, in dem Caroline übernachtet hatte. Mit den Doppelbetten, der Kommode und dem Fernseher auf einer drehbaren Konsole wirkte es wie ein winziges Hotelzimmer.
Sharon McVee, so hieß sie laut Namensschild, deutete auf das elfenbeinfarbene Tastentelefon auf dem Nachttisch zwischen den Betten. »Wählen Sie einfach die Null«, sagte sie. »Und teilen Sie der Dame am Empfang mit, dass Sie am internen Anschluss zwei-fünf-null sind. Dann gibt Sie Ihnen eine Leitung nach draußen und Sie können direkt durchwählen. Sie brauchen sich um nichts weiter zu kümmern, das ist kostenfrei.« Sie lächelte mitfühlend und gleichzeitig distanziert.
»Danke.« Scott ließ sich auf einem der Betten nieder und sah zu, wie Sharon McVee aus dem Zimmer ging und die Tür hinter sich schloss. Dabei musste er daran denken, dass er ihr sicher nie begegnet wäre, hätte sein Leben nicht gewaltsam diese Wendung genommen.
Plötzlich allein, hätte sich Scott am liebsten zurückgelehnt um zu schlafen. Die Normalität dieses Zimmers, an dem nichts bemerkenswert war, machte ihm bewusst, wie nah er einem Nervenzusammenbruch gewesen war, wie fragil die Wirklichkeit seit Carolines Anruf auf dem Flughafen geworden war. In jenem Moment, bevor er wie ein nasser Sack zu Boden gesunken war, hatte sich das nackte Entsetzen mit einem noch stärkeren Gefühl vermengt, in das er sich wie in eine wärmende schwarze Hülle geflüchtet hatte: Es war die dunkle Sehnsucht danach gewesen, allem ein Ende zu machen, alle Verbindungen zu kappen und seiner Frau ins Vergessen zu folgen. Wie hieß es doch gleich in dieser Country-Schnulze?
Doch es gab noch Gründe, andere Gründe, zum Weiterleben, oder nicht? Es musste so sein, denn er war immer noch da, atmete noch, empfand immer noch Kummer.
Und dann erfasste ihn eine Welle der Erleichterung, denn ihm wurde klar, wen er als Erstes anrufen würde. Seinen besten Freund, den Kumpel, mit dem er zusammen aufgewachsen war, den einzigen Mann auf dieser Welt, der sogar Schläge für ihn einstecken würde: Gerry St. Georges.
Er schlief zwei Stunden, bis er, ein Traumbild von Krista vor Augen, schweißgebadet aus dem Schlaf schreckte. Er hatte sie kalt und steif in der Leichenkammer des Allgemeinen Krankenhauses von Danvers liegen sehen, wo man sie in eine tiefgekühlte, herausziehbare Box verfrachtet hatte.
Als er schließlich bei Gerry zu Hause anrief, nahm niemand ab. Danach versuchte er es bei dessen Dienststelle, wo man ihm mitteilte, Gerry habe die nächsten Tage freigenommen. Die Nächste, die er anrief, war Klara. Als sie sich mit betrunkenem Lallen meldete, hätte er am liebsten sofort wieder aufgelegt und sie zum Teufel geschickt. Aber Schnapsdrossel hin oder her: Schließlich war sie Kristas Schwester und hatte ein Anrecht darauf, zu erfahren, was passiert war.
»Klara, hier ist Scott.« Seine Stimme zitterte stark. »Leider habe ich schlechte Nachrichten.«