Gleich darauf hob er zum Test ihrer Reflexe - das hatte er wahrend des Medizinstudiums gelernt - ihre Lider an und untersuchte die Augäpfel.
Nichts. Schwarze. Dunkle Teiche stillstehenden kalten Wassers.
Am liebsten hätte Scott sich sofort bemüht, sie aufzuwecken, sie zu erreichen, sie aus den trüben Teichen dieser Augen, in denen ihr Selbst unterging, herauszuholen. Es war der Arzt in ihm, der diesen schrecklichen Versuch vereitelte.
Scott zog sich zurück.
Und dann kam ihm eine Idee, die so völlig unglaublich und dennoch unwiderstehlich war, dass er schon beim Gedanken an diese Möglichkeit zu zittern begann. Er hatte zwar keine rationale Vorstellung davon, mit wem oder was er es hier zu tun hatte - aber schließlich war ja auch nichts von allem, was geschehen war, rational, oder? War er dem Teufel persönlich, verkörpert durch diesen ekelhaften Alten, von Angesicht zu Angesicht begegnet? Oder war es irgendein verbitterter Racheengel Gottes? Wenn ihm vor vier Tagen (war es wirklich erst vier Tage her?) jemand erzählt hätte, er werde innerhalb weniger Stunden ohne Wenn und Aber an übersinnliche Erscheinungen glauben, hätte er herzlich darüber gelacht. Hätte dieselbe Person behauptet, er werde keine Woche später ernsthaft über einen Pakt mit dem Teufel nachsinnen, hätte er ihr eine Zwangseinweisung in die Psychiatrie verpasst.
Aber wenn der Alte diese Dinge nur dadurch, dass er sie zeichnete, geschehen lassen konnte — und tat er nicht genau das? —, dann konnte er sie vielleicht auch wieder aus der Welt schaffen. Womöglich würde man ihn dazu überreden können,
Kath ihr normales Selbst zurückzugeben und ihre Seele zu retten, so dass sie wieder in diese leeren Augen zurückkehrte.
In diesem Augenblick schoss Scott die Möglichkeit durch den Kopf, dass er völlig durchgeknallt war, aber er verwarf sie schnell wieder, ging zu einem Telefon und rief den Flughafen an. Dort konnte man ihm einen Platz für einen Direktflug um drei Uhr nachmittags reservieren, also würde er um zehn nach vier in Ottawa eintreffen. Jetzt war es zwanzig nach zwei.
Er kehrte ins Zimmer zurück, griff nach seiner Flugtasche und warf einen letzten Blick auf Kath, ehe er davoneilte. Am Zimmereingang stieß er mit Caroline zusammen.
»Scott, wo gehst du hin?«
Er packte sie so heftig am Arm, dass er ihr wehtat. »Bleib bei ihr«, sagte er mit wahnsinniger Eindringlichkeit »Beschütze sie.«
»Scott
Als er sich an ihr vorbeidrängte, blieb seine Flugtasche an der Türklinke hängen und löste sich aus seinem Griff. Kleidung fiel heraus, eine Zahnbürste und der Umschlag mit den Weihnachtsbildern. Die Fotos rutschten heraus und verteilten sich fächerförmig wie das Blatt eines Kartenspielers auf dem Fußboden.
Scott hob die Tasche auf und stopfte die Kleidung wieder hinein, während sich Caroline verwirrt bückte, um die Fotos einzusammeln.
Als sie wieder hochsah, war Scott bereits verschwunden.
Am schwersten war es für Caroline, die Bilder von Krista anzusehen, aber sie ging sie wie unter einem Zwang durch, wobei ihr Mienenspiel ständig zwischen Schmerz und Freude wechselte. Unfassbar, dass ihre kleine Schwester tot sein sollte ...
Während Tränen ihren Blick trübten, stieß Caroline auf die Unterwasser-Aufnahme von der Anlegestelle. Verwundert betrachtete sie das Foto, wobei ihr plötzlich kalt wurde, und mischte es dann unter die anderen Bilder ganz unten im Stapel.
Auf dem nächsten Abzug war überhaupt nichts zu erkennen ... Oder doch?
Ungläubig sah Caroline zu, wie sich die nicht entwickelte Aufnahme kaum merklich zu verändern begann. Anfangs dachte sie, ihre Fantasie spiele ihr einen Streich, es sei nur eine Sinnestäuschung ihres überreizten Hirns.
Aber nein: Das Ding veränderte sich tatsächlich, entwickelte sich wie ein Polaroidfoto, nur langsamer. Nach und nach tauchte ein Gesicht oder der Teil eines Gesichtes auf... und zwei Hände, die nach oben griffen.
Das Gesicht auf dem Foto, das sich jetzt herauskristallisierte, als lichte sich nach und nach eine düstere Rauchwolke, war grässlich verzerrt, wie zu einem Todesschrei. Und es schien in irgendeiner Masse festzustecken ... Unterhalb des Kinns, rund um die Ohren und rings um die Stirn war ...
Ja, es war das Gesicht eines Mannes, der in Treibsand versank.
Aber es war nicht
Caroline schrie auf. Diesmal entglitten ihr alle Fotos und verteilten sich wie die Bruchstücke eines geplatzten Traums auf dem Fußboden.
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»Wo ist er?«