Der Nebel hing morgens dicht über dem Lager. Die Maschinengewehrtürme und die Palisaden waren nicht zu erkennen. Es schien dadurch eine Zeitlang, als existiere das Konzentrationslager nicht mehr, als habe der Nebel die Umzäunung in eine weiche, trügerische Freiheit aufgelöst und als brauche man nur vorwärts zu gehen, um zu finden, sie seien nicht mehr da. Dann kamen die Sirenen und bald darauf die ersten Explosionen. Sie kamen aus einem weichen Nirgendwo und hatten keine Richtung und keinen Ursprung. Sie hätten ebenso in der Luft oder hinter dem Horizont wie in der Stadt sein können. Sie wurden umhergeworfen wie Donner von vielen gedämpften Gewittern, und es schien in dem Weißgrau der wattigen Unendlichkeit, als sei keine Gefahr in ihnen. Die Bewohner von Baracke 22 hockten müde auf den Betten und in den Gängen. Sie hatten wenig geschlafen und waren elend vor Hunger; am Abend vorher hatte es nur eine dünne Suppe gegeben. Sie achteten kaum auf das Bombardement. Sie kannten auch das nun schon; es war ebenfalls zu einem Teil ihrer Existenz geworden. Keiner war vorbereitet darauf, daß plötzlich das Heulen sich rasend verstärkte und in einer ungeheuren Detonation endete. Die Baracke schwankte wie bei einem Erdbeben. In das hallende Zurück« ebben des Kraches klang das Klirren der zerbrochenen Fensterscheiben. »Sie bombardieren uns! Sie bombardieren uns!« schrie jemand. »Laßt mich 'raus! 'raus hier!« Eine Panik entstand. Leute fielen aus den Betten. Andere versuchten herunter» zuklettern und hingen mit denen, die unten waren, in einem Gewirr von Gliedern zusammen. Kraftlose Arme schlugen um sich, die Gebisse in den Totenschädeln waren gebleckt, und die Augen starrten angstvoll aus den tiefen Höhlen. Das Gespenstische dabei war, daß scheinbar alles lautlos vor sich ging; das Toben der Abwehrgeschütze und der Bomben war jetzt so stark, daß es den Lärm drinnen völlig übertönte. Offene Münder schienen ohne Stimmen zu schreien, als habe die Angst sie stumm gemacht. Eine zweite Explosion schüttelte den Boden. Die Panik verstärkte sich zu Aufruhr und Flucht. Die Leute, die noch gehen konnten, drängten übereinander durch die Gänge; andere lagen völlig teilnahmslos auf den Betten und starrten auf ihre lautlos gestikulierenden Kameraden, als seien sie Zuschauer in einer Pantomime, die sie selbst nichts mehr anging. »Tür zu!« rief Berger. Es war zu spät. Die Tür flog auf, und der erste Haufen Skelette stolperte in den Nebel. Andere folgten. Die Veteranen hockten in ihrer Ecke und hatten Mühe, nicht mit hinausgerissen zu werden. »Hierbleiben!« rief Berger. »Die Wachen werden schießen!« Die Flucht ging weiter. »Hinlegen!« rief Lewinsky. Er hatte die Nacht trotz Handkes Drohungen in Baracke 22 verbracht. Es war ihm immer noch sicherer gewesen; am Tage vorher waren im Arbeitslager vier Leute mit den Anfangsbuchstaben H und K von dem Spezialkommando Steinbrenner, Breuer und Niemann erwischt und zum Krematorium geführt worden. Es war ein Glück, daß die Suche bürokratisch vor sich ging. Lewinsky hatte nicht gewartet, bis der Buchstabe L herankam. »Flach auf den Boden!« rief er. »Sie werden schießen!« »'raus! Wer will hier in der Mausefalle bleiben?« Draußen knatterten bereits Schüsse in das Heulen und Donnern. »Da! Es geht los! Hinlegen! Flach! Die Maschinengewehre sind gefährlicher als die Bomben!« Lewinsky hatte unrecht. Nach der dritten Explosion hörten die' Maschinengewehre auf. Die Wachen hatten die Türme eiligst verlassen. Lewinsky kroch zur Tür hinaus. »Keine Gefahr mehr!« schrie er Berger ins Ohr. »Die SS ist verschwunden.«
»Sollen wir drinbleiben?«
»Nein! Es ist kein Schutz. Wir können eingeklemmt werden und brennen.«
»'raus!« rief Meyerhof. »Wenn der Stacheldraht zerbombt wird, können wir fliehen!«
»Halt die Schnauze, Idiot! Sie werden dich fassen in deinem Anzug und dich erschießen.«
»Kommt 'raus.«
Sie drängten sich aus der Tür. »Zusammenbleiben!« schrie Lewinsky. Er griff Meyerhof an die Jacke vor der Brust. »Wenn du Blödsinn machst, breche ich dir mit meinen eigenen Händen den Hals, hörst du? Verfluchter Idiot, meinst du, wir können das jetzt riskieren?« Er schüttelte ihn.
»Verstehst du? Oder soll ich dir den Hals sofort brechen?«
»Laß ihn«,sagte Berger. »Er wird nichts tun. Er ist zu schwach, und ich passe auf.«
Sie lagen in der Nähe der Baracke, nahe genug, um die dunklen Wände noch im kochenden Nebel sehen zu können. Es sah aus, als qualmten sie von einem unsichtbaren Feuer. So lagen sie, die Riesenhände vieler Donner im Genick, angepreßt an den Boden und warteten auf die nächste Explosion.
Es kam keine. Nur die Flak tobte weiter. Auch von der Stadt her hörte man bald keine Bomben mehr. Dafür kam deutlicher wieder das Knattern von Gewehrschüssen durch den Lärm.
»Die Schießerei ist hier im Lager«, sagte Sulzbacher.
»Es ist die SS.« Lebenthal hob den Kopf. »Vielleicht haben sie die Kasernen getroffen, und Weber und Neubauer sind tot.«