Weber öffnete das Etui. Es enthielt ein Kriegsverdienstkreuz. Neubauer sah zu seinem Erstaunen, daß Weber errötete. Er hätte alles andere erwartet. »Hier ist eine Bestätigung dazu«, erklärte er. »Sie hätten es längst haben sollen. Wir sind ja hier gewissermaßen auch an der Front. Kein Wort weiter darüber.« Er reichte Weber die Hand. »Harte Zeiten. Wir müssen sie durchstehen.« Weber ging. Neubauer schüttelte den Kopf. Der kleine Trick mit dem Orden hatte besser gewirkt, als er geglaubt hätte. Irgendwo hatte doch jeder seine schwache Stelle. Er blieb eine Weile grübelnd vor der großen bunten Landkarte von Europa stehen, die an der Wand gegenüber dem Hitlerbild hing. Die Fähnchen darauf stimmten nicht mehr. Sie befanden sich noch weit innerhalb Rußlands. Neubauer hatte sie da stecken lassen in einer Art von Aberglauben, daß sie vielleicht noch einmal gültig werden könnten. Er seufzte, ging zum Schreibtisch zurück, hob die Glasvase mit den Veilchen auf und roch den süßen Duft. Ein unklarer Gedanke streifte ihn. Das sind wir, unsere Besten, dachte er fast erschüttert. Raum für alles haben wir in unserer Seele. Eiserne Disziplin bei historischen Notwendigkeiten und gleichzeitig tiefstes Gemüt. Der Führer mit seiner Kinderliebe. Göring, der Freund der Tiere. Er roch noch einmal an den Blumen. Hundertdreißigtausend Mark hatte er verloren und war trotzdem schon wieder obenauf. Nicht kaputt zu kriegen! Schon wieder Sinn für das Schöne! Die Idee mit der Lagerkapelle war gut gewesen. Selma und Freya kamen heute abend herauf. Es würde einen glänzenden Eindruck auf sie machen. Er setzte sich an die Schreibmaschine und tippte mit zwei dicken Fingern den Befehl für die Kapelle. Das war für seine Privatakten, Dazu kam die Anordnung, schwache Sträflinge von der Arbeit zu befreien. Sie stimmte in einer anderen Weise, aber er hatte sie einfach so verstanden. Was Weber tat, war seine Sache. Er würde schon etwas tun; das Kriegsverdienstkreuz war gerade rechtzeitig angekommen. Die Privatakten enthielten eine ganze Anzahl Beweise für Neubauers Milde und Fürsorge. Daneben selbstverständlich das übliche belastende Material gegen Vorgesetzte und Parteigenossen. Wer im Feuer stand, konnte niemals für genug Deckung sorgen. Neubauer klappte den blauen Aktendeckel befriedigt zu und griff zum Telefon. Sein Rechtsanwalt hatte ihm einen ausgezeichneten Tip gegeben: gebombte Grundstücke zu kaufen. Sie waren billig. Ungebombte auch. Man konnte seine eigenen Verluste damit herausholen. Grundstücke behielten ihren Wert, auch wenn sie hundertmal gebombt wurden. Man mußte die augenblickliche Panik ausnutzen. Das Aufräumungskommando kam vom Kupferwerk zurück. Es hatte zwölf Stunden schwer gearbeitet. Ein Teil der großen Halle war eingestürzt, und verschiedene Abteilungen waren schwer beschädigt. Nur wenige Hacken und Spaten waren zur Verfügung gewesen, und die meisten Gefangenen hatten mit den bloßen Händen arbeiten müssen. Die Hände waren zerrissen und bluteten. Alle waren todmüde und hungrig. Mittags hatten sie eine dünne Suppe bekommen, in der unbekannte Pflanzen schwammen. Die Direktion des Kupferwerkes hatte sie großmütig spendiert. Ihr einziger Vorteil war gewesen, daß sie warm war. Dafür hatten die Ingenieure und Aufseher des Werks die Gefangenen wie Sklaven gehetzt. Sie waren Zivilisten; aber manche waren nicht viel besser als die SS. Lewinsky marschierte in der Mitte des Zuges. Neben ihm ging Willy Werner. Beide hatten es geschafft, beim Einteilen des Kommandos in dieselbe Gruppe zu kommen. Es waren keine einzelnen Nummern aufgerufen worden; nur eine Gesamtgruppe von vierhundert Mann. Das Aufräumen war ein schweres Kommando. Es hatte wenige Freiwillige dafür gegeben, und so war es leicht gewesen für Lewinsky und Werner, hineinzugelangen. Sie wußten, warum sie es wollten. Sie hatten es schon einige Male vorher getan. Die vierhundert marschierten langsam. Sie hatten sechzehn Mann bei sich, die bei der Arbeit zusammengebrochen waren. Zwölf konnten noch gehen, wenn sie gestützt wurden; die anderen vier wurden getragen; zwei auf einer rohen Bahre, die anderen beiden an Armen und Füßen. Der Weg zum Lager war weit; die Gefangenen wurden um die Stadt herumgeführt.
Die SS vermied es, sie durch die Straßen marschieren zu lassen. Sie wollte nicht, daß man sie sah; und sie wollte jetzt auch nicht, daß die Gefangenen zu viel von der Zerstörung sähen.
Sie näherten sich einem kleinen Birkenwald. Die Stämme schimmerten seidig im letzten Licht. Die SS-Wachen und die Kapos verteilten sich den Zug entlang. Die SS hielt die Waffen schußbereit.
Die Gefangenen trotteten vorwärts. Vögel zwitscherten in den Ästen. Ein Hauch von Grün und Frühling hing in den Zweigen.
Schneeglöckchen und Primeln wuchsen an den Gräben. Wasser gluckste. Niemand beachtete es.
Alle waren zu müde. Dann kamen aufs neue Felder und Äcker, und die Wachen zogen sich wieder zusammen.