»Ja.« »Gib ihn her.« Lewinsky sah sich noch einmal um. »Du weißt, was das bedeutet?« »Jaja«, erwiderte 509 ungeduldig. »Es war schwer, ihn zu kriegen. Wir haben viel riskieren müssen.« »Ja, Lewinsky. Ich passe schon auf. Gib ihn nur her.« Lewinsky griff in seinen Kittel und schob die Waffe in die Hand von 509. 509 fühlte sie. Sie war schwerer, als er erwartet hatte. »Was ist das darum?« fragte er. »Ein Lappen mit etwas Fett. Ist das Loch unter deinem Bett trocken?« »Ja«, sagte 509. Es stimmte nicht; aber er wollte die Waffe nicht zurückgeben. »Ist Munition dabei?« fragte er. »Ja. Nicht viel; ein paar Patronen. Er ist außerdem geladen.« 509 steckte den Revolver unter sein Hemd und knöpfte den Kittel darüber zu. Er fühlte ihn in der Nähe seines Herzens und spürte einen raschen Schauder über seine Haut laufen. »Ich gehe jetzt«, sagte Lewinsky. »Paß scharf auf ihn auf. Versteck ihn gleich.« Er sprach von der Waffe wie von einem wichtigen Menschen. »Das nächstemal, wenn ich komme, kommt jemand von uns mit. Habt ihr tatsächlich Platz?« Er blickte über den Appellplatz, auf dem im Dunkeln dunklere Gestalten lagen. »Wir haben Platz«, erwiderte 509. »Für eure Leute haben wir immer Platz.« »Gut. Wenn Handke wiederkommt, gib ihm noch etwas Geld. Habt ihr was?« »Ich habe noch was. Für einen Tag.« »Ich will sehen, daß wir etwas zusammenkriegen. Werde es Lebenthal geben. Ist das in Ordnung?« »Ja.« Lewinsky verschwand im Schatten der nächsten Baracke. Von dort stolperte er, wie ein Muselmann vornüber gebeugt, der Latrine zu. 509 blieb noch eine Zeitlang sitzen. Er lehnte den Rücken fest gegen die Barackenwand. Mit der rechten Hand preßte er den Revolver gegen seinen Körper. Er widerstand der Versuchung, ihn herauszunehmen, den Lappen aufzuwickeln und das Metall anzufassen; er hielt ihn nur fest. Er fühlte die Linien des Laufes und des Handgriffes, und er fühlte sie, als ginge von ihnen eine schwere, dunkle Kraft aus. Es war das erstemal in vielen Jahren, daß er etwas an sich gepreßt hielt, mit dem er sich verteidigen konnte. Er war plötzlich nicht mehr völlig hilflos. Er war nicht mehr vollkommen ausgeliefert. Er wußte, daß es eine Illusion war und daß er die Waffe nicht gebrauchen durfte; aber es genügte, daß er sie bei sich hatte. Es genügte, um etwas in ihm zu verändern. Das schmale Werkzeug des Todes war wie ein Dynamo des Lebens. Es strömte Widerstand in ihn über. Er dachte an Handke. Er dachte an den Haß, den er gegen ihn gespürt hatte. Handke hatte das Geld bekommen; aber er war schwächer gewesen als 509. Er dachte an Rosen; er hatte ihn retten können. Dann dachte er an Weber. Er dachte lange an ihn und an die erste Zeit im Lager. Er hatte das seit Jahren nicht getan. Er hatte alle Erinnerungen in sich verbannt; auch die an die Zeit vor dem Lager. Sogar seinen Namen hatte er nicht mehr hören wollen. Er war kein Mensch mehr gewesen, und er hatte es nicht mehr sein wollen; es hätte ihn zerbrochen. Er war eine Nummer geworden und hatte sich nur noch als Nummer genannt und nennen lassen. Schweigend saß er in der Nacht und atmete und hielt die Waffe fest und fühlte, wie vieles sich in den letzten Wochen verändert hatte. Die Erinnerungen kamen plötzlich wieder, und ihm war, als äße und tränke er gleichzeitig etwas, das er nicht sehen konnte und das wie eine starke Medizin war. Er hörte, wie die Wachen abgelöst wurden. Vorsichtig stand er auf. Er taumelte einige Sekunden, als habe er Wein getrunken. Dann ging er langsam um die Baracke herum. Neben der Tür hockte jemand. »509!« flüsterte er. Es war Rosen.
509 schrak auf, als erwache er aus einem endlosen, schweren Traum. Er blickte hinunter. »Ich heiße Koller«, sagte er abwesend. »Friedrich Koller.« »Ja?« erwiderte Rosen verständnislos.
XIV
»Ich will einen Priester«, jammerte Ammers.
Er jammerte es schon den ganzen Nachmittag. Sie hatten versucht, es ihm auszureden, aber es hatte keinen Zweck gehabt. Es war plötzlich über ihn gekommen.
»Was für einen Priester?« fragte Lebenthal.
»Einen katholischen. Wozu fragst du das, du Jude?«
»Sieh da!« Lebenthal schüttelte den Kopf. »Ein Antisemit! Das hat uns hier gerade noch gefehlt.«
»Es gibt genug im Lager«, sagte 509.
»Ihr habt schuld!« zeterte Ammers. »An allem! Ohne euch Juden wären wir nicht hier.«
»Was? Warum denn das nicht?«
»Weil es dann keine Lager gäbe. Ich will einen Priester!«
»Schäm dich, Ammers«, sagte Bucher aufgebracht.
»Ich brauche mich nicht zu schämen. Ich bin krank! Holt einen Priester.« 509 sah auf die blauen Lippen und die eingesunkenen Augen. »Es gibt keinen Priester im Lager, Ammers.«
»Sie müssen einen haben. Es ist mein Recht. Ich sterbe.«
»Ich glaube nicht, daß du stirbst«, erklärte Lebenthal.
»Ich sterbe, weil ihr verdammten Juden alles aufgefressen habt, was mir zukam. Und jetzt wollt ihr mir nicht einmal einen Priester holen. Ich will beichten. Was wißt ihr davon? Wozu muß ich in einer Judenbaracke sein? Ich habe ein Recht auf eine Arierbaracke.«
»Hier nicht mehr. Nur im Arbeitslager. Hier sind alle gleich.«